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Buchtipp Erinnerungskultur: eine Studie zu Handlungsräumen von KZ-Aufseherinnen

Schwedtsee vor dem KZ Ravensbrück

Buchtipp Erinnerungskultur: Johannes Schwartz: “Weibliche Angelegenheiten”

Im Mittelpunkt der Studie “Weibliche Angelegenheiten” Handlungsräume von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück und Neubrandenburg aus dem Jahr 2018 steht die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich während der Zeit des Nationalsozialismus derart viele Menschen an Disziplinierungs- und Unterdrückungspraktiken beteiligten und Verletzungs- sowie Tötungsgewalt ausübten.

Autor Johannes Schwartz, Historiker und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter für Provenienzforschung in Hannover, untersucht diese Thematik am Beispiel der Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück und dessen Außenlager Neubrandenburg.

Übersetzer Französisch Deutsch Biografie Widerstandskämpfer

Mahnmal Ravensbrück

Handlungsräume von KZ-Aufseherinnen: Fragestellungen

Schwartz befasst sich insbesondere mit folgenden Fragen:

Welche Handlungsräume standen Aufseherinnen in Konzentrationslagern zur Verfügung? Wie wurden Aufseherinnen für Konzentrationslager eingestellt und welche Verdienst- und Karrieremöglichkeiten standen ihnen dort offen? Welche Rolle kam Gewalt bei der Herstellung von Herrschaftsverhältnissen und der Bewachung von Zwangsarbeitern zu?  Wie stellten die politisch Herrschenden bei ihren Untergebenen die Bereitschaft her, vermutete und tatsächliche Erwartungen in Handlungen umzusetzen? Welche Rolle kam hierbei Eigeninitiative bzw. Eigensinn zu?

Dokumente aus Nationalsozialismus und Nachkriegszeit

Materialgrundlage für die Studie sind Dokumente aus der NS-Zeit sowie aus der Zeit nach dem Dritten Reich, die Informationen über SS-Aufseherinnen enthalten. Hierzu zählen zum einen die Dienstvorschrift für das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, zum anderen juristische Nachkriegsdokumente aus britischen, französischen und russischen Militärgerichtsprozessen, polnische, west- und ostdeutsche Ermittlungsakten sowie niedergeschriebene oder mündlich vorgetragene Erinnerungsberichte von Überlebenden des KZ Ravensbrück.

Übersetzer Französisch Deutsch Zeitzeugenberichte

Ehemaliges Frauen-KZ Ravensbrück

Die Herkunft von KZ-Aufseherinnen

Nach einer kurzen Zusammenfassung der Lagergeschichte befasst sich Schwartz mit beruflicher, regionaler und sozialer Herkunft von KZ-Aufseherinnen sowie mit den verschiedenen Formen ihrer Rekrutierung (Bewerbung auf Zeitungsanzeigen, Anwerbung durch Bekannte und Verwandte, Anwerbung durch den “Schutzhaftlagerführer”, Abstellung durch den Betrieb, Dienstverpflichtung durch das Arbeitsamt…). Dabei zeigt sich, dass sich fast zwei Fünftel der SS-Aufseherinnen freiwillig im Konzentrationslager bewarben. Eingegangen wird ferner auch auf die Frage, ob bei der Dienstverpflichtung von Frauen zum Bewachungsdienst im Konzentrationslager Druck oder Zwang ausgeübt wurde.

Ausbildung und Karrieremöglichkeiten von KZ-Aufseherinnen

Anschließend beschäftigt sich Schwartz mit der Ausbildung und ideologischen Indoktrination von KZ-Aufseherinnen, welche vor Ort über ein offizielles Misshandlungsverbot unterrichtet wurden, während gleichzeitig betont wurde, dass es sich dabei nur um ein formales Verbot handle und es in ihrer eigenen Verantwortung liege, dieses zu befolgen oder nicht.

Die Karrieremöglichkeiten im Frauen-KZ stellt Schwartz anschaulich an den Karrierewegen von insgesamt 16 Ravensbrücker und Neubrandenburger KZ-Oberaufseherinnen dar. Er geht dabei auch auf eine Studie von Genderwissenschaftlerin Lavern Wolfram ein, die sich mit der Thematik der NSDAP-Mitgliedschaft als Karrierevoraussetzung in Frauen-KZs befasst.

Zusammenfassend betont Schwartz, dass Zellenbau-Leiterinnen es auf unterschiedliche Art und Weise verstanden, den jeweiligen Lagerkommandanten von ihrer Eignung zur Oberaufseherin zu überzeugen. Wichtige Faktoren seien nicht nur eine gewisse Gewaltbereitschaft, sondern auch gute Beziehungen, Einsätze in verschiedenen Bereichen des Lagers sowie eine lange Dienstzeit gewesen. Das Beispiel Klein-Plaubel zeigt jedoch auch, dass Gewalttätigkeit ab dem Herbst 1943 keine Voraussetzung für eine Beförderung zur KZ-Oberaufseherin war. So waren im Fall der Unternehmerstochter Klein-Plaubel wohl eher Leitungserfahrung und Führungskompetenz entscheidende Gründe.

Übersetzung Französisch Deutsch Biografie Widerstandskämpfer

Schwedtsee am KZ Ravensbrück

Mikroebene der Handlungsräume im KZ-System

In Kapitel IV wiederum befasst sich der Autor mit der Mikroebene der Handlungsräume der SS-Aufseherinnen im Rahmen des offiziellen und inoffiziellen Strafsystems im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück sowie in dessen Außenlager Neubrandenburg. Hierbei untersucht er v. a., wie sich offizielles Strafsystem und tatsächliche Strafpraxis voneinander unterschieden, und geht der Frage nach, wie weibliche KZ-Gefangene bestraft wurden. Betrachtet wird dabei auch, zu welchen Wechselwirkungen und Verbindungen es zwischen den unterschiedlichen Gewaltformen kam.

Sehr genau analysiert Schwartz die Strafpraktiken von KZ-Oberaufseherinnen (Verwarnungen, Meldungen, Strafrapporte, Verhängung und Vollzug von Kollektiv- und Individualstrafen, Einzel-, Dunkelhaft…).

KZ-Aufseherin Emma Zimmer

Besonders eingegangen wird auf die Rolle der Aufseherin Emma Zimmer im provisorischen Holzzellenbau, wo diese mit extremer Gewalt (Folter bis zur Bewusstlosigkeit, verbale Gewalt durch die Ankündigung von Aushungerung, oftmaliges Übergießen mit kaltem Wasser, Einschnüren in Zwangsjacken bis zur Ohnmacht etc.) auffiel und die dort Inhaftierten schwere psychische Erkrankungen erlitten.

Zwischen Mai und Dezember 1939 war Emma Zimmer im Frauen-KZ Ravensbrück auch Leiterin des Strafblocks, wo die völlig unterernährten Gefangenen z. B. neu angelegte Straßen mit einer zentnerschweren Steinwalze planieren mussten und die Aufseherin andere Häftlinge dazu benutzte, Mitgefangene zu misshandeln.

Übersetzer Französisch Deutsch KZ-System

Straßenwalze Frauen-KZ Ravensbrück

Verschärfung von Bestrafungspraktiken durch SS-Aufseherinnen

Eine Bereitschaft zu extremer Gewalt (Peitschenhiebe, Schläge, Hundebisse, Verabreichung von eisigen Duschen, Zwang zur Nacktheit etc.) verbinden Überlebende des KZ Ravensbrück auch mit Strafblock-Lagerleiterin Luise Lehmann.

Anhand von Zeugenaussagen aus dem Steinblock zeigt Schwartz ferner, dass manche SS-Aufseherinnen nicht nur die von ihren Vorgesetzten angeordneten Arreststrafen vollzogen, sondern die Bestrafungspraktiken auch erheblich verschärften.

In Bezug auf Sippenhäftlinge sind Fälle direkter körperliche Gewalt dagegen nicht überliefert.

Näher befasst sich Schwartz auch mit den Handlungsräumen der KZ-Oberaufseherinnen während der täglichen Zähl- und Arbeitsappelle, die dazu genutzt wurden, Gefangene zu kontrollieren, zu beherrschen, zu quälen und Formen von autotelischer und struktureller Gewalt auszuüben. So nahmen Aufseherinnen während des Appells nicht nur Verspätungen und Unruhe, sondern auch Verstöße gegen die Kleiderordnung, wie z. B. den Barfußzwang,  zum Anlass für Gewalt, die sich nicht selten verselbstständigte und so bei der Häftlingsgemeinschaft für eine große abschreckende Wirkung sorgte.

Korrektor Studie Nationalsozialismus

Folterpritsche KZ Sachsenhausen

Präsentation von Weiblichkeit im Konzentrationslager

Schwartz weist nach, dass klar festgelegt war, wer sich im Konzentrationslager als Frau zeigen durfte und wer nicht. So wurde bei Häftlingen jedes Zeichen von Weiblichkeit, wie z. B. unter Kopftüchern herausschauende Locken, gegenseitiges Frisieren oder Schneiden der Haare, mit körperlicher Gewalt, Einweisung in den Strafblock, Ausziehen oder Kahlscheren bestraft. Die SS-Aufseherinnen dagegen präsentierten sich als Frauen mit ondulierten Dauerwellen und blondierten Haaren und demonstrierten auch so ihre Macht über die weiblichen Gefangenen.

Blockkontrollen

In Bezug auf Blockkontrollen stellt Schwartz heraus, dass diese eher selten von den Oberaufseherinnen selbst durchgeführt wurden. Verantwortlich hierfür waren in der Regel die “Blockführerinnen”, welche zu kontrollieren hatten, dass in ihrem Block “Ordnung und Sauberkeit” herrschten, was auch demütigende Körperkontrollen beinhaltete.

Gewalterfahrungen in Textil- und Rüstungsindustrie

Das nächste Kapitel untersucht die Frage, welche Funktion der Gewalt in Ravensbrück und Neubrandenburg in Bezug auf die dort geleistete Zwangsarbeit zukam.

Bevor Schwartz auf Gewalt zur Steigerung von Arbeitsproduktivität eingeht, gibt er einen kurzen Überblick über die Unternehmen, die weibliche Gefangene in Ravensbrück ausbeuteten.

Anschließend beschäftigt er sich mit Gewalt in Schneidereien,  Siemens-Werkhallen und im KZ-Außenlagerkomplex Neubrandenburg, welche darauf abzielte, die Produktivität der weiblichen KZ-Häftlinge zu erhöhen, und führt aus, mit welchen Strafen Frauen zu rechnen hatten, wenn sie ihr viel zu hohes Arbeitspensum nicht erfüllen konnten. Auch befasst sich Schwartz mit anderen Auslösern von Gewalt, wie Arbeitsunterbrechungen, kleineren Diebstähle oder Beschädigungen von Arbeitsutensilien.

Lektor Studie Nationalsozialismus

Installation im Frauen-KZ Ravensbrück

“Sanfte Gewalt”

Schwartz stellt heraus, dass Aufseherinnen nicht nur Arbeitsleistungen überprüften, sondern auch befugt waren, Strafen zu verhängen, welche für alle Gefangenen eine Warnfunktion hatten. Er erläutert auch die Formen “sanfter Gewalt”, welche von den Häftlingen als solche nicht anerkannt und daher positiv wahrgenommen wurde, von männlichen SS-Vorgesetzten aber in Bezug auf die eigene Machtposition als gefährlich angesehen wurde.

Gewalt zur Durchsetzung persönlicher Ziele

Die Studie zeigt anschließend, wie Gewalt zur Durchsetzung von Privatinteressen eingesetzt wurde. So forderten einige Aufseherinnen die Zwangsarbeiterinnen zu Diebstählen auf oder hielten Häftlinge dazu an, für sie Kissen oder Kleidungsstücke zu nähen. Am Beispiel zweier Aufseherinnen in den Schneidereien zeigt der Autor, dass die Handlungsräume von SS-Aufseherinnen auch von deren Verhältnis zur männlichen SS abhingen.

Übersetzer Französisch Deutsch Zwangsarbeit

Unterkünfte der SS-Aufseherinnen in Ravensbrück

Selektionen und Vernichtung

Kapitel VI befasst sich mit der Frage, welche Aufgaben den SS-Aufseherinnen im Rahmen von Selektionen übertragen wurden, welche Selektionsbefehle sie bekamen und welche Selektionsentscheidungen sie selbst trafen oder weitergaben und zu welchen Handlungen körperlicher Gewalt es dabei kam.

Nach einer Zusammenfassung der Kapitel I bis VI folgt ein 26-seitiger Anhang mit den Kurzbiografien der im Mittelpunkt der Studie stehenden 16 SS-Aufseherinnen.

Meine Meinung zum Buch

Eine sehr sorgfältige, auch für Nicht-Historiker gut lesbare Studie, die sich gegen die Tendenz in der KZ-Forschung richtet, die Geschlechterdifferenz zu vernachlässigen bzw. ganz zu ignorieren und die gleichzeitig auf interdisziplinäre Forschungsdiskussionen zu Gewalt eingeht.

Ausgesprochen interessant für alle, die sich mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und dem KZ-System des Nationalsozialismus im Besonderen befassen und dabei verstärkt die weibliche Perspektive kennenlernen möchten.

Eine Dissertation, die Opfer und Täter aus ihrer Anonymität holt, ihnen Namen gibt und ihre Positionen, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Handlungspraktiken öffentlich macht und deutlich zeigt, wie Gewalt dazu beitrug, die Herrschaft der KZ-Leitung zu stärken und die Arbeitsproduktivität der Gefangenen zu erhöhen.

Johannes Schwartz: “Weibliche Angelegenheiten” Handlungsräume von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück und Neubrandenburg. Hamburg 20181, Hamburger Edition, 440 Seiten

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Fotos: Andrea Halbritter, Côté Langues

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