Übersetzer unter Gelbwesten: ein Interview zur französischen Bewegung der Gelbwesten
Viele Menschen in Deutschland beunruhigt die Gelbwesten-Bewegung im französischen Nachbarland. Handelt es sich bei den Gelbwesten um Rechtspopulisten? Wieso halten die Proteste in Frankreich so lange an? Was sind die Forderungen der Gelbwesten? Geht von ihnen eine Gefahr für die Demokratie aus? Zu Beginn der Woche bat mich die Königlich Bayerische Antifa in Schwangau um ein Interview, das ich nun auch hier auf meinem Blog einstelle:
1. Hi, Andrea, danke, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns ein bisschen über die Gelbwesten-Proteste zu reden.Vielleicht magst du dich kurz vorstellen und deine persönliche Perspektive auf Frankreich erklären?
Hallo, ich bin Romanistin, lebe seit fünf Jahren überwiegend in der Südbretagne, bin dort freiberuflich als Übersetzerin, Korrektorin, Community Managerin und Webredakteurin tätig. Insgesamt habe ich etwa 12 Jahre meines Lebens in Frankreich verbracht. Geboren bin ich in Augsburg, wo ich auch studiert habe. Politisch stehe ich den Grünen nahe, bin jedoch bisher in keiner Partei engagiert. Der Antifaschismus liegt bei uns in der Familie: Ich bin die Enkeltochter von Wilhelmine Hausmann, deren erster Ehemann Leonhard als Widerstandskämpfer in Dachau ermordet wurde.
2. Öffentlicher, auch militanter, Protest gegen die Regierungspolitik ist in Frankreich ja nun keine Seltenheit. Was macht die Gelbwesten-Bewegung für dich so besonders?
Die Gelbwesten-Bewegung umfasst sowohl Leute aus dem rechten als auch aus dem linken Spektrum und der politischen Mitte. Es handelt sich um eine sehr breite Bewegung, die sich durch viele Schichten zieht und die nun schon seit mehreren Wochen anhält. Dies heißt jedoch nicht, dass sie die Bevölkerung nichtspaltet. Man ist sich nämlich weder über die geeignete Art des Protests noch über die genauen Forderungen (außer dass alle Anhänger mehr Kaufkraft haben möchten) einig. Zu einem derart massiven Protest gegen eine französische Regierung kam es in meinem bisherigen Leben noch nicht. (Für die Proteste 1968 bin ich zu jung.)
“Besonders” erscheint mir allerdings etwas zu positiv. Die Bewegung hat für viele Teile der Bevölkerung verheerende Auswirkungen. So verzeichnen Selbstständige und Inhaber von Geschäften und Restaurants je nach Lage und Bereich bis zu 90 % Umsatzeinbußen. Wer “Glück” hat, kommt mit 30 % davon …
3. Die Gelbwesten-Proteste gelten jetzt schon als heftigste soziale Auseinandersetzung in Frankreich seit den späten 1960er-Jahren. Es scheint auf den ersten Blick unverständlich, warum dieser Protest nicht zuerst und am heftigsten in den sozialen Brennpunkten der Banlieues ausgebrochen ist. Dort ist es (noch) ziemlich ruhig.
Die neoliberale Politik und der Kommunikationsstil von Macron stoßen breiten Schichten der Bevölkerung schon länger auf. Zum Überlaufen wurde das Fass durch die angekündigte Erhöhung der Steuern auf Benzin gebracht, welches im Herbst sowieso schon recht teuer war. Eine solche Erhöhung betrifft natürlich v. a.Pendler, also überwiegend Leute, die auf dem Land wohnen, sowie andere Teile der Landbevölkerung, die nicht arbeiten, die jedoch regelmäßig größere Strecken mit dem Auto zurücklegen müssen, sei es aufgrund von Arztbesuchen, die nur in der nächst größeren Stadt erledigt werden können, oder von Einkäufen usw.
In den Banlieues ist es in der Tat bisher eher ruhig. Dies heißt jedoch nicht, dass sich Bewohner bestimmter Vorstädte nicht an den Protesten beteiligen. Ich selbst kenne dort auch einige Gelbwesten. Der Anteil an nicht-französischstämmigen Bewohnern ist in den Vorstädten jedoch sehr hoch. Viele kommen z. B. aus Nordafrika. Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Menschen nicht unbedingt an den Protesten beteiligen, da ihnen Teile der Gelbwesten zu rechts sind. Dies soll jedoch keineswegs heißen, dass es sich bei den Gelbwesten um eine Bewegung handelt, die vorwiegend dem rechten Spektrum zuzuordnen ist. Sehr viele Anhänger der France Insoumise, einer Partei, die am linken Rand anzusiedeln ist und die manche sogar als linksradikal einstufen, sind ebenfalls Teil der Gelbwesten.
Le Monde hat am 4. Dezember einen Artikel veröffentlicht, in dem die Ziele der Gelbwesten mit denen von Le Pen und Mélenchon verglichen werden und festgestellt, dass sich mit dem Rassemblement National von Le Pen eine Übereinstimmung von 50 % und mit der France Insoumise eine Übereinstimmung zu zwei Dritteln ergibt. Die Ziele der Gelbwesten kommen außerdem den Forderungen des ehemaligen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon sehr nah.
Nach einer von slate veröffentlichten Statistik befinden sich, wenn man von den letzten Wahlen in Frankreich ausgeht, unter den Gelbwesten 42 % Wähler von Le Pen, 20 % vonMélenchon, 16 % von Fillon, 9 % von Hamon und 5 % von Macron. Die Forderungen der Gelbwesten wurden zuletzt angeblich von 78 % der Anhänger von Le Pen sowie von 73 % der Anhänger von Mélenchon befürwortet.
Geografisch gesehen haben sich die Gelbwesten bisher v. a. auf Verkehrsknotenpunkte sowie auf größere Einkaufszentren konzentriert. Diese liegen ebenfalls nicht in den sozialen Brennzonen, sondern eher in Industriegebieten. Es kam jedoch auch zu vielen Protesten in den Innenstädten.
Dies soll jedoch nicht heißen, dass es in den Problemvierteln der Städte komplett ruhig ist. Hier demonstrierten zuletzt Schüler, wie man ja z. B. an dem Video aus Mantes-La-Jolie sehen konnte. Die Schülerproteste sind noch einmal eine eigene Bewegung, die die Proteste der Gelbwesten jedoch unterstützt.
4. Wir als KBA sind extrem misstrauisch, was die Richtung angeht, die die Gelbwesten letztendlich politisch/ideologisch einschlagen werden. Wenn nach Umfragen 42 % der aktiven Gelbwesten-Mitglieder bei der letzten Wahl Front National gewählt haben, dann spricht das doch dafür, dass die Bewegung zumindest im Kern absolutdurchlässig für rechtsradikale Inhalte ist. Wie siehst du das?
Ein Potenzial für rechtsradikale bzw. rechtspopulistische Inhalte gibt es bei Teilen der Gelbwesten sicherlich. Allerdings haben die Gelbwesten auch sehr viele Anhänger im linken Lager, speziell unter den Anhängern von Mélenchon. Die letzten Monate hatte ich in Frankreich eher das Gefühl, dass es zu einer Verschiebung nach links kommt. Die Rede Macrons am 10.12. hat einen Großteil der Gelbwesten sehr enttäuscht.
Ich sehe seither auf sozialen Netzwerken verstärkt Kommentare, die Sozialhilfe, Wohngeld usw. für Ausländer ablehnen. Insgesamt befürchte ich, dass es zu einer weiteren Spaltung der Bevölkerung kommt. Durch die Gelbwesten haben viele Menschen finanzielle Einbußen, da sie z. B. nicht zur Arbeit kommen, der Zugang zu ihrem Geschäft blockiert ist, ihre Kunden mit Aufträgen zurückhaltend sind usw. Viele Selbstständige befinden sich in einem Dilemma. Sie unterstützen manche Ziele der Gelbwesten, drohen jedoch an deren Protesten zugrunde zu gehen. Andere wiederum fragen sich, wie die Schäden in der Hauptstadt bezahlt werden sollen.
5. Die Aktionsform der organisierten Straßenblockaden scheint ziemlich effektiv zu sein, bringt den Gelbwesten in der Bevölkerung aber nicht nur Sympathie. Betrifft dich der relative Ausnahmezustand auch selbst?
Effektiv? Nicht unbedingt. Die Aktionen fallen auch von Ort zu Ort unterschiedlich aus. An manchen Stellen wird nur über die Bewegung informiert, aber es kommt zu keinen kompletten Blockaden. An anderen wird “gefiltert”, wiederum andere Bereiche sind an Samstagen komplett zu.
Manche Inhaber von Supermärkten haben vorsorglich erst gar nicht geöffnet. Die Blockaden sind sehr umstritten. Leute haben dafür Arbeitsausfall, werden also nicht unbedingt bezahlt,obwohl sie auf das Geld dringend angewiesen wären. In manchen Gegenden befürchten laut La Tribune 30 % der kleinen und mittelständischen Unternehmen,dass sie schließen müssen, so die Blockaden anhalten.
Bei mir vor Ort ist es relativ ruhig, es kommt zwar zu kleineren Blockaden, da ich aber nicht in der Nähe einer Großstadt lebe, bekomme ich größere Ausschreitungen bisher nur über die Medien mit. Mich am Wochenende in die nächste Großstadt zubegeben, vermeide ich. Auswirkungen hat die Bewegung jedoch dennoch auf mich.
Meine Kunden befinden sich hauptsächlich in Frankreich. Meine Zielgruppe sind Museen, Tourismusbetriebe und Gedenkstätten sowie Unternehmen, die nach Deutschland exportieren. Ich arbeite zu einem großen Teil für Startups, die sich auf den deutschen Markt begeben wollen. Da der Umsatz in Frankreich stark rückläufig ist, ist es diesen Unternehmern nur noch schwer bzw. gar nicht mehr möglich, Investitionen zu tätigen. Heißt derzeit konkret: Projekte werden auf Eis gelegt, Übersetzungen und Webredaktionsprojekte annuliert. Man hofft auf bessere Zeiten. Ich habe seit drei Wochen einen Umsatzrückgang von 90 %.
Am Wochenende überlege ich mir außerdem, was ich unternehme. Ich möchte ja meinen Samstagnicht irgendwo vor irgendeiner Blockade verbringen… Wir sind also weniger unterwegs als vorher, bleiben hauptsächlich vor Ort.
Ich kaufe vorwiegend bei lokalen Erzeugern ein. Für den Fall, dass irgendwann die Lebensmittelvorräte knapp werden sollten (momentan ist dies nicht der Fall), habe ich mir aber einen kleinen Vorrat an Reis, Hirse usw. zugelegt.
6. Nachdem Macron in Bezug auf die Benzinsteuer als Auslöser der Proteste eingeknickt ist, kann man absehen, was die neue Kernforderung der Bewegung wird? Neuwahlen?
Die Forderungen haben nie nur die Benzinsteuer betroffen. Sie waren und sind also keinesfalls die Kernforderung der Bewegung. Die Erhöhung soll – soweit ich weiß – bisher auch nur ausgesetzt werden. Forderungen betreffen auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, erschwinglichen Wohnraum für alle, eine Erhöhung des Mindestlohns, generelle Steuererleichterungen, mehr Hilfen für Behinderte und Rentner …
Ein Rücktritt Macrons wird von vielen schon seit Wochen gefordert. “Macron démission” prangt mittlerweile auch an einigen Hauswänden … In manchen Gruppen rufen vereinzelt Leute dazu auf, Macron aus dem Elysée zu holen und ihn aufzuhängen.
Die Kernforderung war für mich von Anfang an die nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Macron hat die großen Vermögen entlastet und dagegen viele neue Steuern eingeführt. Die Abschaffung der Impôt de solidarité sur la fortune ist für einen Großteil der Bevölkerung nicht akzeptabel. Viele wenden sich auch gegen bestimmte Privilegien der Regierenden. Was die einzelnen Forderungen betrifft, ist man sich jedoch nicht einig. Im Netz kursieren diverse Listen.
Einer der Hauptvorwürfe an die Regierungspartei ist Bürgerferne, Macron selbst empfinden viele als arrogant. Äußerungen, wie um einen Job zu finden, müsse man nur über die Straße gehen, kommen bei den wenigsten gut an.
7. Wie steht dein persönliches Umfeld in Frankreich zum Protest? Hast du dich selbst schon an friedlichem Protest im Kontext der Gelbwesten-Bewegung beteiligt oder hast du das in der Zukunft vor? Was wünschst du dir für die protestierenden Menschen?
Ich selbst habe mich an keinen Protesten beteiligt. Zum einen identifiziere ich mich zwar mit einigen Zielen der Gelbwesten, andere kann ich aber nicht unterstützen. Die Umwelt ist mir sehr wichtig und daher bin ich nicht gegen eine Erhöhung der Steuern auf Benzin.
Nicht in Ordnung ist für mich außerdem die Vorgehensweise. Die Bürger blockieren und schaden sich gewissermaßen gegenseitig. So jedenfalls meine Sicht. “Kollateralschäden”, wie Geschäftsaufgaben, daraus resultierende Arbeitsplatzverluste etc., scheinen mir von vielen billigend in Kauf genommen zu werden. Ich bin selbstständig, organisiere in meiner Gegend auch Networking-Events, an denen Freiberufler, Kleinunternehmer und Handwerker teilnehmen. Viele von uns leiden finanziell sehr unter der Situation. Die Aufträge gehen stark zurück, Patienten sagen Termine ab, die Leute gehen nicht mehr aus usw. Einige von uns haben Angst, dass sich ihr Unternehmen davon nicht mehr erholen wird. Wir fühlen uns von der Regierung im Stich gelassen.
In meinem Umfeld befinden sich jedoch durchaus auch Unterstützer der Gelbwesten, die an Demonstrationen und Blockaden teilnehmen. Es handelt sich dabei in der Regel um Anhänger von Mélenchon oder Hamon. Manche sind auch bis nach Paris gereist, um zu protestieren. Als sie wieder da waren, waren sie über die Fernsehberichte sehr erstaunt, da sie von Ausschreitungen nichts mitbekommen hatten. Von vielen höre ich, dass es bei ihren Aktionen völlig ruhig war.
Zu Großdemonstrationen stoßen in Frankreich häufig Chaoten dazu. Die Polizei setzt außerdem fast systematisch Tränengas und auch Gummigeschosse ein. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust, mitten in so einem Chaos unterwegs zu sein und meine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Die Gewalt von Seiten mancher Demonstranten und Polizisten schockiert mich.
Kreativere Proteste, zu denen es mancherorts auch kam (wie z. B. Rundtänze im Kreisverkehr, Konzerte usw.), gefallen mir da schon besser. Teils wurden auch Finanzämter zugemauert und in unserer Gegend gibt es kaum noch funktionierende Radargeräte. Blitzer wurden in der Regel nicht zerstört, sondern “verkleidet”, manche auch gelb angesprüht. Dem stehen natürlich viele positiver gegenüber als Blockaden …
Momentan sind wir alle gespannt, wie es weitergeht …
Interview aus dem November 2018