Ich übersetze nicht nur, derzeit unterrichte ich auch eine 8. Jahrgangsstufe im Fach Deutsch. Bereits vor Beginn des Schuljahres machte ich mich auf die Suche nach einer geeigneten Klassenlektüre und las mehrere Empfehlungen des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) in München. Darunter befand sich auch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ des irischen Autors John Boyne.
Rezension: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne
In bayerischen Klassenzimmern erfreut sich der Jugendroman über die NS-Zeit tatsächlich großer Beliebtheit. Doch wie geeignet ist „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wirklich als Klassenlektüre? Und lohnt es sich, das Buch in Eigenregie zuhause zu lesen?
Ich will’s kurz und schmerzlos machen: Das Buch ist eine Schmonzette über Auschwitz, die ich auf keinen Fall als Schullektüre empfehlen würde. Zwar liest es sich spannend, doch John Boyne schert sich null um Fakten.
„Der Junge im gestreiften Pyjama“: die Handlung
Die Handlung des Jugendromans startet im Jahr 1942. Der neunjährige Bruno zieht mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Auschwitz – wohin sein Vater als hochrangiger SS-ler versetzt wird. Was sein Vater in Auschwitz macht, weiß Bruno nicht. Der Ortswechsel gefällt weder den Geschwistern noch der Mutter, denn das Haus, das die Familie in Berlin bewohnt hat, war weit komfortabler und auch erheblich größer.
Vom ersten Stock aus kann Bruno auf das Lager sehen, begreift aber nicht, worum es sich handelt. Aus Langeweile unternimmt er lange Spaziergänge und lernt so den jüdischen Jungen Schmuel kennen, der sich auf der anderen Seite des Zauns befindet. Die beiden treffen sich regelmäßig am Lagerzaun und werden Freunde.
Im Haus der Familie arbeiten auch KZ-Häftlinge. Eines Tages wird Schmuel zu Arbeiten in der Küche eingesetzt. Bruno tut so, als ob er den jüdischen Jungen nicht kennt, hat aber ein schlechtes Gewissen. Später erfährt er, dass Schmuel in seinem Haus von einem befreundeten Oberleutnant misshandelt wurde.
Irgendwann erzählt Schmuel Bruno, dass er seinen Vater nicht mehr finden kann. Er sei aus dem Lager verschwunden. Bruno bietet an, Schmuel bei der Suche zu helfen. Damit Bruno sich unbemerkt im Lager bewegen kann, organisiert sein Freund für ihn Häftlingskleidung. Dann hebt er den Maschendrahtzaun an und Bruno gelangt in das Lager. Zurück kehrt er nicht, denn an diesem Tag vergast die SS eine größere Anzahl an Kindern – Bruno und Schmuel sind dabei.
Seine Eltern suchen Bruno überall, irgendwann entdecken sie Brunos Kleidung am Zaun. Brunos Vater, den KZ-Kommandanten, beschleicht eine furchtbare Ahnung, an der er zerbricht.
Eine unerträgliche Schmonzette – ungeeignet als Schullektüre
Warum ich das Buch für eine Schmonzette halte, ist an dieser kurzen Zusammenfassung der Handlung wahrscheinlich klar geworden. Mit der Realität hat der Jugendroman nichts zu tun. Ja, der KZ-Kommandant, auf den das Jugendbuch anspielt – Rudolf Höß – erscheint fast schon als geläuterter Mann.
Brauchen wir solche Romane über Auschwitz? Nein. Sollte eine Klasse ein solches Buch lesen? Wiederum nein!
Ob John Boyne es nicht besser weiß, keine Lust hatte zu recherchieren oder er einfach einen Kassenschlager schreiben wollte, kann ich nicht beurteilen. Ich tippe aber auf alles davon – Drücken auf die Tränendrüse inklusive.
Das Buch über die Judenverfolgung wird inzwischen an vielen Schulen gelesen. Deutschlehrkräfte schaffen es an, weil sie es vermutlich auch nicht besser wissen und als Beifach nicht Geschichte gewählt haben.
Historische Ungenauigkeiten im Buch
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ strotzt vor historischen Ungenauigkeiten beziehungsweise Fehlern: In Auschwitz gab es nicht – wie im Buch von John Boyne beschrieben – zahlreiche Kinder im Lager. Die meisten von ihnen wurden direkt nach der Selektion vergast. Nur wer arbeitsfähig war oder wen Mengele für seine Versuche gebrauchen konnte, überlebte zunächst. In Auschwitz dürften sich also kaum neunjährige Jungs befunden haben.
Das ist aber noch nicht alles!
Im Jugendbuch besucht Hitler mit seiner Geliebten Eva Braun den KZ-Kommandanten von Auschwitz. Einen solchen Besuch hat es nie gegeben. Der Führer hielt seine Beziehung zu Eva Braun bis zum Schluss vor der Öffentlichkeit geheim. Nur ein kleiner Kreis wusste davon.
Der Zaun, der das KZ umgab, stand in Wirklichkeit unter Strom. Es wäre nicht möglich gewesen, einfach darunter durchzukriechen. Und selbst wenn: Weshalb ist Schlomo dann nicht einfach mit seinem Vater geflüchtet?
Logik? Fehlanzeige in „Der Junge im gestreiften Pyjama“
Unlogisch ist im Buch noch viel mehr:
Bruno ist weder indoktriniert, noch weiß er auch nur in etwa, was sein Vater macht. Auch vom Führer scheint Bruno noch nie etwas gehört zu haben. Manchmal habe ich mich da tatsächlich als Leserin des Buchs von John Boyne gefragt: Weshalb soll ausgerechnet an Bruno die Rassenlehre vorbeigegangen sein? Weshalb gibt Bruno ständig Wörter falsch wieder? Hat er eine Hörbehinderung? (Nein, hat er nicht!) Bisweilen erscheint der Junge wie ein maximal 4-Jähriger.
Auch ist jegliches NS-Gedankengut an Bruno vorübergegangen – sehr unwahrscheinlich für den Sohn eines KZ-Kommandanten …
Bruno sieht von seinem Zimmer aus Holzbaracken. Das Stammlager Auschwitz bestand jedoch aus Steinhäusern. Holzhütten gab es lediglich in Birkenau. Dort war die SS aber nicht untergebracht.
Weshalb fällt nicht auf, dass Schmuel regelmäßig mehrere Stunden fehlt, um sich mit Bruno zu unterhalten? Und warum fallen die beiden Jungs am Zaun nie jemandem auf?
„Der Junge im gestreiften Pyjama“: die Perwoll-Version des Holocausts
Nun sagst du vielleicht: „Aber naja, es ist ja ein Roman. Bei Romanen ist immer auch ein Stück Fiktion dabei.“ Ja, klar. Aber John Boyne liefert mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ eine schön-gespülte Auschwitz-Version, quasi „Holocaust – die Perwoll-Version“.
Eignet sich so ein Buch wirklich für den Schulunterricht? Sicher nicht, da kann es das ISB in München noch so sehr empfehlen!
Natürlich müssen und sollten wir 8. Klässler*innen im Deutschunterricht nicht sämtliche Schrecken des Holocausts aufzeigen. Aber ein bisschen Realität muss schon sein. Tod, Hunger und Misshandlungen sind im Buch kaum oder nur zwischen den Zeilen zu finden. Begriffe, wie „Auschwitz, Führer und Jude“ werden verfälscht. Bruno hat eine naive Sicht auf das Geschehen. Erwachsene verstehen das. Kinder und Jugendliche nicht – jedenfalls nicht ohne viele zusätzliche Hintergrundinfos.
Ein Ende aus dem Gruselkabinett
Das Ende des Jugendromans mutet gruselig an. Warum eigentlich hat sich der Autor John Boyne für dieses Ende entschieden? War es sein Ziel, zu einer Katharsis (Reinigung) zu kommen? Wollte er dem KZ-Kommandanten zu einer „gerechten Strafe“ verhelfen? Oder war sein Ziel einfach nur, eine überraschende Wende schaffen, die perplex zurücklässt? Sollte die Story einfach „filmreif“ werden und die Kinokassen füllen?
Liebe Lehrkräfte, bitte verzichtet darauf, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ im Unterricht zu lesen. Packt dieses Buch einfach in die Mottenkiste. Es gibt weit bessere Bücher zur NS-Zeit, die ihr mit Schüler*innen der 7. oder 8. Jahrgangsstufe lesen könnt, zum Beispiel „Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens“, „Das Tagebuch der Anne Frank“, „Auf Wiedersehen im Himmel“ oder „Lena – Unser Dorf und der Krieg“.





