Blind Date Nr. 1
Bei meiner ersten Begegnung mit einem blinden Menschen war ich so fünf. Mit Mutter und Bruder fuhr ich mit dem Bus in die Stadt, als irgendwann ein mittelgroßer, rundlicher, ganz in Weiß gekleideter Mann mit einem langen weißen Stock zustieg. So einen Stock hatten wir Kinder noch nie gesehen! Ein Wanderstock war das bestimmt nicht. Dazu war er viel zu lang und auch zu dünn. Neugierig fragten wir unsere Mutter, was denn mit dem Mann los sei. Unsere Fragen waren ihr offensichtlich peinlich. Sie meinte ganz leise, er sei blind und wir sollten ruhig sein.
Danach beschäftigte mich wochenlang eine Frage: Wenn mich irgendeine Macht dazu zwingen würde, mir eine Behinderung auszusuchen, welche würde ich dann wohl wählen? Wäre ich lieber taub, blind oder im Rollstuhl?
Mit tauben Menschen hatte ich als 5-jährige schon öfter Kontakt gehabt. Der Patenonkel meines Bruders war nämlich taub und konnte nur über Gebärdensprache kommunizieren. Ich verstand also maximal 10 % von dem, was er mir mitteilen wollte. Zum Beispiel so Dinge wie Durst und Hunger.
Seit der Begegnung im Bus stellte ich jedem die Frage, ob er lieber blind oder taub wäre. Aber kein Erwachsener wollte sich darüber ernsthaft mit mir unterhalten. Die lapidaren Antworten waren immer: “Man wünscht sich keine Behinderung.” “Keines von beiden.” “So einen Quatsch fragt man nicht.” Ich fühlte mich blöd, weil ich mir solche Gedanken machte.
Den blinden Mann aus dem Bus habe ich noch Jahrzehnte später gesehen. Häufig habe ich mich sogar gefreut, wenn er einstieg, denn er gehörte für mich irgendwie dazu, war mir vertraut und ein Stück Heimat, wenn ich von einer längeren Auslandsreise wieder nach Augsburg kam.
Blind Date Nr. 2
Mein Blind Date Nr. 2 hatte ich mit Marc. Also eigentlich mit Marc und Françoise. Damals arbeitete ich im Rahmen eines deutsch-französischen Austauschprogramms bei der Postbank in Clermont-Ferrand. Marc war dort in der Telefonvermittlung angestellt und unterhielt sich mit uns deutschen Aushilfen jeden Morgen etwa zehn Minuten am Telefon. Irgendwann meinte ich dann, ob er sich nicht mit mir in der Kaffeepause treffen wolle, worauf er zunächst nicht einging. Meine Kollegin klärte mich darüber auf, dass Marc blind sei und seinen Kaffee eigentlich nicht in der Cafeteria, sondern im Büro trinke. Wenige Tage später erzählte mir Marc von seiner Erblindung während seines Medizinstudiums und lud mich zu sich und seiner ebenfalls blinden Freundin zum Abendessen ein.
Bei der Ankunft war es mir etwas mulmig zumute. Aber er und Françoise gaben mir sofort ein paar klare Hinweise, um die ich sehr froh war, weil sie mir die Unsicherheit nahmen:
“Du kannst hier alles anfassen und in die Hand nehmen. Stell die Sachen aber bitte wieder zurück. Sonst finden wir sie nicht mehr. Deine Handtasche hängst du am besten über deinen Stuhl, dann fallen wir nicht drüber. Schuhe bitte ausziehen, die kannst du da hinten hinstellen. Ansonsten: Wenn wir deine Hilfe brauchen, sagen wir Bescheid. Toilette ist dort hinten.”
Es wurde ein toller Abend und ich kam aus dem Staunen nicht heraus, wie Marc Weinflaschen problemlos öffnete, Gläser mit Präzision befüllte und Françoise Suppe servierte. Einmal wich mir Marc im Gang aus: “Ich habe das Gefühl, dass du mich siehst.” “Ich sehe Umrisse, aber mehr nicht. Françoise sieht gar nichts.”
Mit Marc und Françoise war ich noch jahrelang in Kontakt. Wenn mich eine Reise nach Clermont-Ferrand verschlug, lud ich sie zum Essen ein oder umgekehrt.
Einmal sollte ich Marc vom Büro abholen. Ausgemacht war, dass ich ihn mit dem Handy anrief, wenn ich am Haupteingang der Postbank stehen würde. Als ich auf dem Fußweg vor dem Gebäude entlanglief, rief Marc plötzlich aus dem 4. Stock: “Ich komme runter.” Ich vermutete, dass mich ein Kollege gesehen hatte, doch als Marc unten war, meinte er: “Das konntest nur du sein. Bei diesem strömenden Regen ist außer dir keiner mit Flip-Flops unterwegs.” “Du hast meine Flip-Flops gehört?” “Ja, klar!”
Blind Date Nr. 3
Mein Blind Date Nr. 3 hatte ich mit Bastien. Bastien und ich waren jahrelang in derselben Genossenschaft. Als Übersetzerin und Texterin bin ich nämlich Teil einer Genossenschaft der Sozial- und Solidarwirtschaft. Einige unserer Mitglieder haben eine Behinderung, zwei davon sind blind. Bastien ist einer davon.
An Bastien schätze ich v. a. seine immer positive Einstellung. Blind ist Bastien seit einem Hirntumor, an dem er vor ein paar Jahren erkrankt ist. Damals war er LKW-Fahrer und hatte “Glück”, dass er nicht schlagartig am Steuer erblindet ist. So sagt er das jedenfalls selbst. Seither hat er umgeschult und ist nun Masseur. Seine Wohlfühlmassagen sind echt klasse!
Näheren Kontakt hatte ich zum ersten Mal mit Bastien, weil wir im Rahmen unseres Firmenjubiläums Würfel basteln sollten. Das trauten wir uns beide nicht zu. Bastien, weil er nichts sah, und ich, weil ich absolut keine praktische Veranlagung habe. Wir haben das dann zu zweit gewuppt. Bastien sagte mir, was wir brauchen. Wir haben das Material gemeinsam besorgt und dann leitete er mich an. Eine Schönheit sind unsere Würfel nicht geworden, aber wir waren super happy, dass wir sie gemeinsam zusammengebracht hatten.
Mit Bastien unterhalte ich mich auch ab und zu darüber, was für ihn die größten Barrieren sind, was er sich von seinen Mitmenschen wünschen würde usw.
Manchmal frühstücken wir gemeinsam. Dazu gehen wir in ein größeres Hotel mit Frühstücksbuffet. In der Regel machen wir das so: Ich sage ihm, was es gibt, er macht sich Gedanken, was er möchte. Meist lässt er sich von mir den Teller mit dem befüllen, was er möchte. Ab und zu bedient er sich lieber selbst. Dann zeige ich ihm, wo was ist.
Wenn ich nicht weiß, ob oder wie ich helfen soll, frage ich. Klappt wunderbar! Schließlich will ich ja nicht zu denen gehören, die meinen, Bastien über eine Straße führen zu müssen, obwohl er gar nicht drüber will oder das sehr gut alleine kann.
Andere blinde Begegnungen
Begegnungen mit blinden Menschen hatte ich noch mehr, meist aber nur sehr kurze oder Online-Bekanntschaften, wie z. B. die mit Georges und seiner blinden Frau Marie, die beide in der Bretagne Blindenhunde ausbilden und für mich kürzlich Masken genäht haben. Wie Marie das mit der Nähmaschine gebacken bekommt, ist für mich echt ein Rätsel. Ich als Sehende kriege keine gerade Naht hin.
Sobald Corona um ist, planen wir mit den beiden ein Blind Dinner. Gleiche Bedingungen für alle. Oder nicht ganz! Marie ist da klar im Vorteil, denn die Spaghettisoße landet garantiert auf meinem Kleid und nicht auf ihrem.
Dieser Artikel ist Teil der Blogparade Blind Date – Blinde Begegnung von blindleben. An der Blogparade kannst du noch bis 22. Oktober 2020 teilnehmen.
Illustrationen: © Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e.V., Illustrator Stefan Albers; Pixabay