Buchtipp Erinnerungskultur: Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit
In seinem Werk “Hitler war’s” Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit beschäftigt sich der durch die erste Wehrmachtsausstellung bekannt gewordene Historiker Hannes Heer mit einer Darstellung des Nationalsozialismus, die versucht, das deutsche Volk zu entlasten und Hitler als eine Person darzustellen, die “ihr Ding” ohne die Unterstützung bzw. Hilfe der deutschen Bevölkerung durchgezogen hat.
Padover und das Muster einer neuen Dolchstoßlegende
Hannes Heer beginnt sein Buch mit der Mikroanalyse des US-Soldaten Saul K. Padover, welcher ab Herbst 1944 den Auftrag hatte, die Mentalität der Deutschen für die amerikanische Militärregierung zu erforschen. Padover entdeckte dabei das Muster einer neuen Dolchstoßlegende, welches nach dem Tod des Führers und dem Untergang des Dritten Reiches zur Strategie vieler Deutscher wurde. So dominierte bereits Mitte der 50er-Jahre ein Bewusstsein die Öffentlichkeit, welches allein Hitler und ein paar Hauptkriegsverbrechern die Schuld für die Gräuel des Dritten Reiches zuschob, so dass es Millionen Deutschen möglich war, sich selbst zu entlasten.
In den beiden folgenden Kapiteln zeigt Heer anhand des “Hitler-Experten” Joachim C. Fest, des Films Der Untergang von Bernd Eichinger und den Fernsehserien von Guido Knopp, wie Geschichte umgeschrieben und mit Hitler Quote gemacht wurde.
Der Untergang: die Auslöschung der Geschichte des Dritten Reiches
So spiegelt das Melodram Der Untergang besonders deutlich, wie sich die Masse der Deutschen durch eine Umdeutung der Nazizeit zu entlasten versuchte. Geschichte wird verklärt, der “gute Deutsche” als unwissendes Opfer des Nationalsozialismus dargestellt, dem Konzentrationslager und Holocaust unbekannt waren. Heer zeigt, dass im Untergang Schemata aus den 50er-Jahren reproduziert werden, welche die Gesellschaft in Schwarz und Weiß einteilen und Hitler, Goebbels und anderen Nazigrößen psychiatrische Grunderkrankungen zuschreiben, wohingegen beispielsweise Eva Braun, Albert Speer, Hitlers Sekretärin Traudl Junge überaus positiv dargestellt werden. SS-Größen erscheinen im Film nicht nur als geschichtslose Wesen, sondern mutieren fast schon zu Opfern und Ehrenmännern, die ihrem Schicksal ausgeliefert sind: “Personen erscheinen nicht mehr als Vollstrecker eines Projekts der Welteroberung oder der Judenausrottung […], sie präsentieren sich schlichtweg als Menschen, die in eine ausweglose Situation geraten sind.” (S. 23)
Der Autor hebt deutlich hervor, dass Eichinger damit die Geschichte des Dritten Reiches auslöscht bzw. neu erfindet, was v. a. von rechtskonservativen bis rechtsradikalen Blättern sehr begrüßt wurde.
“Hitler-Experte” Joachim C. Fest
In Kapitel 2 seines Werks befasst sich Heer mit der Hitler-Biografie von Fest aus dem Jahre 1973 und deckt dabei auf, wie jener Hitler zum Genie stilisiert, Polen eine Mitschuld für den Kriegsausbruch gibt und den Niedergang des Dritten Reiches an persönlichen Defiziten und Widrigkeiten im Äußeren festmacht und er Hitler bisweilen sogar mit einem Shakespeareschen Helden vergleicht, der sich für die Emanzipation der Frau eingesetzt habe und nun nur noch mit Blick auf Opfer und Vernichtungslager betrachtet werde.
Zurecht sieht Heer Fests Hitler-Biografie als einen Versuch, “die moralische ‘Heuchelei’ der Nachgeborenen in die Schranken [zu] weisen (S. 46) und der “Nazigeneration den Rücken [zu] stärken” (S. 46).
Als nächstes stellt der Historiker Fests Hitler-Film vor und beweist, dass dieser nur wenig mit der Realgeschichte zu tun hat. So präsentiert er Hitler als “genialen Außenseiter” (S. 51), der von ganz alleine zum Führer wurde. Heer arbeitet heraus, was der Film verschweigt, anders darstellt, als es sich zugetragen hat, und erläutert, wie er dazu beiträgt, die bürgerlich-konservativen Eliten von Schuld freizusprechen. Während das deutsche Volk im Film als schuldunfähig, verführt, hypnotisiert und willenlos erscheint, wird Hitler zum genialen Künstler, Gefühlsmensch und Müßiggänger. Sein verbrecherischer Charakter verschwindet im Hintergrund, die Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern und Juden wird ausgeblendet und Hitler weder als Kriegspolitiker noch als Lebensraumstratege dargestellt. Heer zeigt, dass der Zuschauer Hitler stattdessen u. a. mit den Augen der Eva Braun zu sehen bekommt und er so zu dem Schluss gelangt, dass eine oberbayerische Idylle keinen Weltvernichtungsplan habe zulassen können.
Interessant sind auch die Ausführungen zur Rezeption des Films, welche betonen, dass dieser sogar in liberalen Medien beklatscht wurde und er in der Presse insgesamt nur auf wenig Ablehnung stieß.
Die verschiedenen Arbeiten Fests, seine Rolle im Historikerstreit und insbesondere auch die Reinwaschung des Rüstungsministers und KZ-Architekts Albert Speer zeigen laut Heer die Zugehörigkeit des bekannten deutschen Journalisten und Historikers zu “Hitlers Hof” (S. 119).
Die Hitler-Serien des Fernsehhistorikers Guido Knopp
Mit seinem Ziel, durch das Fernsehen einen Beitrag zur Herausbildung der deutschen Identität zu leisten, ordnet sich Knopp der durch den Antritt der Regierung Kohl ausgelösten Bewegung zu, welche Geschichte zu einer neuen patriotischen Funktion verhelfen wollte. Heer zeigt, wie Knopp mit seinen Videoclips nach anglo-amerikanischer Machart das Publikum erreicht und fesselt und die Art des Dokumentarfernsehens verändert. Er führt aus, inwiefern die von Knopp produzierten Dokumentarfilme die Sehnsüchte nach einem starken Mann bedienen und sie Hitler vermarkten, statt für Aufklärung zu sorgen: “Indem er [= Knopp] Täter mit Goldrand und die Nazizeit als Erlebnis präsentiert, verstärkt er das Faszinosum, das von dieser Spukgeschichte immer noch ausgeht.” (S. 195)
Gegenreden
Hannes Heers Werk gewinnt jedoch weniger durch die Beschäftigung mit Geschichtsmythen an Bedeutung als durch die drei Gegenreden, die er in sein Buch einfließen lässt: Dietrich Bonhoeffers Analyse von Nationalsozialismus und Bürgertum, das Aufkommen von Erinnerungsliteratur in Form von Familienromanen und die Einübung in den Holocaust.
Gegenrede I
Gegenrede I beschäftigt sich auf über 30 Seiten mit Dietrich Bonhoeffers Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und “seiner Analyse der Kapitulation des deutschen Bürgertums vor den Nazis” (S. 126).
Gegenrede II
Gegenrede II befasst sich mit Erinnerungsliteraturen, die ab dem Ende der 70er-Jahre in Deutschland einsetzten und zu deren frühen Autoren z. B. Christa Wolf, Ingeborg Drewitz oder Peter Härtling zählten und die schließlich später für die Entstehung einer neuen Art von Familienromanen sorgten, die nicht mehr nur aus Erinnerungen und einschneidenden Ereignissen bestanden, sondern die auch Tagebücher, Briefe, Fotoalben, Akten aus Archiven usw. heranzogen und einer “Intimisierung von Geschichte” (S. 236) gleichkamen.
Für Hannes Heer “lebt [diese Literatur] vom Mißtrauen und vom Zweifel. Sie hat das Vertrauen verloren auf das, was in den Familien erzählt wird.” (S. 199/200). Näher stellt Heer u. a. Romane von Stephan Wackwitz, Uwe Timm, Thomas Medicus, Ulla Hahn und Wibke Bruhns vor, denen allen ein Familiengeheimnis zugrunde liegt und die die Geschichte der Nazizeit in Form einer Familiengeschichte darstellen. Die Frage Und was hast du damals getan? War v. a. nach dem Erscheinen von Spielbergs Film Schindlers Liste im Jahr 1993 aufgekommen, welcher gezeigt hatte, dass das Dritte Reich durchaus Handlungsspielräume zuließ.
Gegenrede III
Gegenrede III befasst sich mit den Gräueltaten von Lemberg, wo die Einheiten des Bataillons 800 einen schrecklichen Fund machten. Beim Rückzug der Roten Armee war unter den politischen Gefangenen ein Blutbad angerichtet worden, dessen Entdeckung Goebbels sogleich dazu nutzte, um der deutschen sowie der internationalen Öffentlichkeit die “tierische Fratze des jüdischen Bolschewismus zu präsentieren” (S. 294). Vor Ort kam es indessen zur Ermordung von Juden, welche für den Tod der politischen Gefangenen mitverantwortlich gemacht wurden. Auf etwa 25 Seiten geht Heer der Frage nach, wer für die Verstümmelung von Leichen politischer Gefangener sowie Judenpogrome verantwortlich war, wobei die genaue Rolle des Bataillon 800 an den Vorkommnissen im Dunkeln bleibt: “Unklar ist, ob […] das Bataillon auch die Initialzündung zum Judenmord gegeben hat. Ein am Vortag ergangener Befehl […] legt das ebenso nahe wie die Mitteilung des Kommandeurs des Bataillons 800, seine Truppe habe am 30. Juni ‘jüdische Plünderer rücksichtslos niedergeschossen’.” (S. 301)
Taten ohne Täter
Im Kapitel Taten ohne Täter befasst sich Heer mit Hartmanns Aufsatz Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des Ostheeres 1941 bis 1944. Er kommt dabei u. a. zu dem Schluss, dass die Judenfrage im Gegensatz zu Hartmanns Ausführungen von Anfang an ein Teil des militärischen Geschehens war und die Wehrmacht am Vorgehen gegen die Juden aktiv beteiligt war. So sei die “Erfassung und Erschießung der Juden […] in allen rückwärtigen Armeegebieten üblich” (S. 272) gewesen.
Meine Meinung zum Buch
Ein interessantes Werk, das deutlich zeigt, wie man in Deutschland lange Zeit versucht hat, sich von der Nazivergangenheit zu befreien und Hitler sowie seiner Clique die alleinige Verantwortung für die Gräueltaten des Dritten Reiches zuzuschieben. Besonders eindrucksvoll sind außerdem Heers Ausführungen zur Rolle der Wehrmacht.
Hannes Heer: “Hitler war’s” Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Aufbau-Verlag, Berlin 12008, ISBN 978-3-7466-7062-1, 439 Seiten
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Fotos: © Côté Langues und Pixabay
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