13. Europäische Sommeruniversität Ravensbrück
Tag 1: Ankunft im Konzentrationslager Ravensbrück
Für Übersetzer ist es sehr wichtig, sich in ihren Fachgebieten regelmäßig fortzubilden. So beschloss ich, dieses Jahr an der Sommeruniversität in Ravensbrück teilzunehmen. Thema: Hunger, Zwangsarbeit und Ernährungsforschung. Nationalsozialistische Agrarpolitik und das KZ-System.
Nach zwei Tagen Fahrt mit Zwischenstopp in Aachen, Besichtigung des Mahnmals der deutschen Teilung in Marienborn und über 1600 km Ankunft in Fürstenberg an der Havel. Die Landschaft ist mit ihren Kanälen und Seen atemberaubend schön und der Kirchturm des kleinen Ortes sieht so ganz anders aus als alles, was ich bisher an Kirchtürmen gesehen habe.
Das Konzentrationslager: erste Eindrücke
Am Ende des Dorfs weist ein Schild zur Gedenkstätte. Über einen von Häftlingen gepflasterten Weg geht es durch ein Waldstück und schließlich zur Straße der Nationen, wo sich Jugendherberge und Memorial des Konzentrationslagers Ravensbrück befinden. Sichtbar wird zunächst ein umzäuntes Areal mit schönem Laubbaumbestand, auf dem acht dreigeschossige Häuser stehen, die mich an die Architektur erinnern, die ich von den Verwaltungsgebäuden der SS in Dachau kenne. Vorne in der Mitte ein kleineres Haus mit roten Dachziegeln und einem Sockel aus Klinkersteinen, davor das Schild “Jugendherberge Ravensbrück”.
Ich parke mein Auto auf dem Kopfsteinpflasterweg, der nach einer Kreuzung ins Nichts zu führen scheint. Ringsum nur Wald, was mich an die Umgebung von Chambord und die französische Sologne erinnert. Der Empfang durch die Herbergsmutter, eine Frau, die etwa Mitte 50 sein dürfte, ist freundlich. Ich bekomme meinen Schlüssel für Zimmer Nr. 6 im Haus Linde und werde kurz eingewiesen, was Bettwäsche und Essen betrifft. Haus Linde liegt direkt am Zaun, was ein Vorteil ist, da ich mein Gepäck so nicht durch das komplette Areal schleppen muss.
Die Jugendherberge am Konzentrationslager Ravensbrück
Auf dem ganzen Gelände liegt der Schleier vergangener Zeiten. Das Gefühl einer mysteriösen Schwere verstärkt sich, als ich das Gebäude aufschließe. Mein Zimmer befindet sich im Erdgeschoss. Wie praktisch. Auch ein riesiges Bad ist dabei. Da es sich um ein Eckzimmer handelt, kann ich über meine Fenster das gesamte Areal überblicken. Fenster Nr. 1 zeigt Richtung Gedenkstätte, Fenster Nr. 2 auf Empfangsgebäude, Kantine und eine weitere abgegrenzte Fläche mit noch mehr Baumbestand, wobei dieses Mal auch Nadelbäume dazugehören.
Zu sehen ist ein Haus mit braunen Klinkern und einem Giebel aus Holz, den ein Balkon ziert. Wer da wohl gewohnt hat? In meinem Gebäude waren zur Nazizeit KZ-Aufseherinnen untergebracht. In den anderen auf meinem Gelände auch. Nach einer schnellen Dusche geht es Richtung Speiseraum. Dort erwartet mich schon die Herbergsmutter.
Eine Gruppe grillt im Freien. Es gibt leckere Geflügelwurst mit Kräutern, Nudelsalat mit Paprika, Gürkchen und Käse, Mozzarella, Tomaten, Salatgurken und Aufschnitt. Dazu Senf aus Bautzen und Schwarzbrot. Als Getränk Kräutertee sowie Apfel-Sanddorn-Saft von einem lokalen Erzeuger. Lecker.
Spaziergang am Schwedtsee
Andere Teilnehmer der Sommeruni sind noch nicht in Sicht. So beschließe ich, mir etwas die Füße zu vertreten, und ziehe mit meiner Kamera los. Die Jugendherberge liegt am See, es können Kanus gemietet werden. Ich bedaure, dass ich meine Kanuschuhe nicht dabei habe. Aber dann geht es halt irgendwann barfuß raus. Ich laufe am Seeufer entlang, komme an einigen Infotafeln zur Gegend vorbei.
Der Schwedtsee präsentiert sich in der Abendsonne mehr als idyllisch. Doch der Schein trügt. Auf einem Schild erfahre ich, dass die Asche der KZ-Häftlinge zum Teil im See “entsorgt” wurde. An seinem Ende gibt der See den Blick auf das Konzentrationslager Ravensbrück und ein Mahnmal frei: die Tragende. Es ist schon nach 21 Uhr.
Die Stimmung an der Mauer des Konzentrationslagers ist eine ganz andere als in den Häusern der Aufseherinnen. Es herrscht eine unglaubliche Ruhe. Außer mir sind nur noch zwei Radler unterwegs, die aber bald nach Hause fahren. Ich bin auf dem KZ-Gelände völlig allein. Angst habe ich keine, ich fühle mich wie von einem schützenden Mantel umhüllt, so als würden alle diese Frauen, die im Lager gelitten haben, auf mich aufpassen.
Umhüllt und beschützt
“Sie sind unser aller Mütter und Schwestern. Ihr könntet heute weder frei lernen noch spielen. Ja, ihr wäret vielleicht gar nicht geboren, wenn solche Frauen nicht ihren zarten, schmächtigen Körper wie stählerne Schutzschilder durch die ganze Zeit des faschistischen Terrors vor euch und eure Zukunft gestellt hätten.”
Die Sätze von Anna Seghers berühren. Ich gehe die KZ-Mauer entlang und lese mir jede einzelne Inschrift zum Gedenken an die Opfer durch. Leider habe ich nicht daran gedacht, Kerzen mitzunehmen. Vor manchen Tafeln verharre ich länger. Dann plötzlich wird die Mauer in ein herrliches Licht getaucht. Ich habe das Gefühl, mich vor den Opfern am meisten verneigen zu können, indem ich diesen Moment festhalte. Ich laufe an der Mauer entlang zur Stelle, an der früher die Gaskammer stand. Es blühen dort jetzt rote Rosen. Ich verharre oft inne, denke an die Toten, die Erschossenen und die Frauen und Mädchen, die diesen Horror überlebt haben.
Eine Freundin meiner eigenen Großmutter ist auch dabei. Ich komme an weiteren Skulpturen vorbei und stehe schließlich vor dem Krematorium. Von da aus laufe ich nochmals zum See hinunter, setze mich und blicke auf das Wasser, das der Sonnenuntergang teils in ein zartes Rosa taucht. Im Schilf raschelt es. Vermutlich Enten. Am Rand des Wassers springen kleine Fische in die Luft. An anderen Stellen ist das Wasser blau, dann wieder grau und schwarz. Dazwischen ragen ein paar Halme heraus. Ich blicke auf den See und werde von einer tiefen inneren Ruhe erfüllt. Es war richtig hierherzukommen.
Verloren und hilflos
Langsam mache ich ein Bild nach dem anderen. So als würde ich meditieren. Jedes Bild hat eine Bedeutung, ehrt die Frauen und Mädchen, die in diesem Wasser ihr Grab gefunden haben. So empfinde ich es jedenfalls. Die Halme sehen verloren aus. Hilflos. Sie stehen in Gruppen zusammen. So als habe man sie zusammengetrieben. Sie blicken mich voller Furcht an. Ich packe die Kamera ein und schaue auf den See. Danke für euren Mut. Danke, dass ihr in dieser schweren Zeit so aufrecht wart, für eure Kinder und Kindeskinder euer Leben riskiert und gegeben habt. Wir werden euch nie vergessen.
Ich stehe auf und laufe langsam weiter Richtung Aufseher-Häuser. Dort kommt mir ein Fahrzeug der brandenburgischen Polizei entgegen. Eigentlich darf man um die Uhrzeit auf dem Gelände nicht mehr unterwegs sein, wie ich später erfahre. Es ist jetzt schon fast halb elf. Langsam beginne ich zu frösteln. Obwohl der Herbst schon Einzug hält, habe ich nur eine leichte Jacke an. Um mich nicht zu erkälten, gehe ich schneller.
Die Wege in der Jugendherberge sind jetzt beleuchtet. Schade, dass ich vergessen habe, mir eine Tasse mitzunehmen. Ich könnte nun gut einen Tee gebrauchen. Ich denke daran, wie die Lagerinsassen wohl gefroren und auch gehungert haben. Bis morgen. Ich ziehe mich jetzt ins Warme zurück. Wie die KZ-Aufseherinnen damals.
Tag 2: Sommeruniversität Ravensbrück: Auftakt
Mit Rührei, Wurst- und Käseplatte, frischen Früchten, Müsli und Semmeln wartet ein leckeres Frühstück auf uns. Im Speisesaal komme ich ins Gespräch mit zwei weiteren Gästen. Es stellt sich heraus, dass beide – wie ich – Übersetzer sind. Wir unterhalten uns über unsere Arbeitsfelder und Sprachen und die Vorteile, freiberuflich tätig zu sein. Im Gegensatz zu mir arbeiten die beiden anderen Übersetzer nicht im Bereich der Erinnerungskultur, sondern erkunden Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit dem Rad. Im Konzentrationslager Ravensbrück sind die beiden also eher zufällig vorbeigekommen. Unter den Teilnehmern der Sommeruniversität sind – wie sich später herausstellt – außer mir ebenfalls weder ein anderer Übersetzer noch ein Korrektor oder Lektor.
Vereint und doch so unbekannt
Ich beschließe, heute erst einmal in die Buchhandlung des Konzentrationslagers zu schauen. Ich brauche neuen Lesestoff und ich möchte mich auch mit den Leuten aus dem Ort unterhalten. Wie haben Frauen meines Alters die Diktatur in der DDR erlebt, wie die Wiedervereinigung? Wie sehen sie Deutschland heute, wie erklären sie sich die Vorfälle in Chemnitz? Schließlich unterhalte ich mich mit einer Angestellten des Konzentrationslagers, die in Fürstenberg aufgewachsen ist und ihr ganzes Leben im Ort verbracht hat. Wir stellen fest, wir Menschen in Ost und West kennen uns auch nach fast 30 Jahren Einheit viel zu wenig. Dabei ist zumindest bei uns die Neugierde auf den anderen da. Wie seid ihr aufgewachsen? Wie war eure Schulzeit, was eure Spiele? Was habt ihr in der DDR am meisten vermisst? Ist es im Westen auch so schwierig, eine Wohnung zu finden? Wie war es für euch, nicht reisen zu können? Fragen über Fragen und … Antworten.
Zum ersten Mal empfinde ich ein tiefes Mitgefühl für diese Menschen, die nach der Hitler-Diktatur auch noch über 40 Jahre kommunistische Diktatur miterleben mussten.
Fürstenberg: eine Stadt am Wasser
Nach zwei Stunden zieht es mich in den Ort, nach Fürstenberg. Zunächst einmal geht es in die Touristeninformation, wo ich mir einige lokal hergestellte Produkte mitnehme: verschiedene Sorten Honig, Chutney aus einer Bio-Manufaktur, Eierlikör aus Straußeneiern. Ich informiere mich auch über Ferienwohnungen. Brandenburg macht Lust, es bei einem längeren Aufenthalt besser kennenzulernen.
Dann laufe ich mit meiner Kamera durch das Städtchen. Kleine Fischerhäuschen schmiegen sich mit ihrem Fachwerk und ihren bunten Farben in die Kopfsteinpflasterstraßen. Andere Häuser schmücken sich mit reichen Verzierungen und Erkern. Vieles muss noch dringend renoviert werden. Die Havel, der Schwedtsee, der Baarensee, die Siggelhavel, der Mühlengraben, der Röblinsee … Die Gegend will auch mit dem Kanu entdeckt werden.
Auftaktveranstaltung in den ehemaligen Garagen des KZ Ravensbrück
Gegen 15.30 Uhr mache ich mich wieder in das Konzentrationslager auf. Die Auftaktveranstaltung zu unserer Sommeruniversität, die unter dem Thema Hunger, Zwangsarbeit und Ernährungsforschung. Nationalsozialistische Agrarpolitik und das KZ-System steht, beginnt um 16 Uhr in den ehemaligen Garagen des Lagers.
Den Eröffnungsvortrag hält Prof. Dr. Willi Oberkrome von der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Er gibt einen Überblick über die agrarische Forschung im Kriegseinsatz, über Strukturen, Programme und Praktiken zwischen 1915 und 1955. Es geht um die Hungererfahrung im 1. Weltkrieg, die Verschlechterung von hygienischen Verhältnissen aufgrund des Mangels an Fett, die Ersatzstoffforschung, Reichsarbeitsgemeinschaften, Gartenbau, Rentabilisierung und Modernisierung, Nahrungsfreiheit (Autarkie), Forcierung der Tierzucht (Fischzüchtungsanlagen, vermehrte Produktion von Schafen etc.), Forschungen zur richtigen Dungbereitung, Roggenanbau, Verbraucherlenkung hin zu einheimischen Früchten, zu Fisch, Malzkaffee, Strategien gegen die Landflucht, Beschlagnahmung polnischer Höfe, Produktionsoptimierung, die Fusion städtischer und ländlicher Lebensart, naturnahe Leistungslandschaften … Ein spannendes Thema und ein guter Auftakt der Sommeruniversität!
Danach steht ein Podiumsgespräch zwischen dem ehemaligen Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Christian Schmidt (CSU), Prof. Dr. Willi Oberkrome und Prof. Dr. Daniela Münkel von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen auf dem Programm. Es moderiert Dr. Matthias Heyl von der Gedenkstätte Ravensbrück.
Plausch am Abend
Im Anschluss ist in einem Restaurant an der Havel Zeit für ein Get-together der etwa 50 Teilnehmer der Sommeruniversität. Wir Älteren machen uns zu Fuß gemeinsam auf, unterhalten uns über die Gründe, aus denen wir hier sind, und stellen fest, dass es sich bei vielen Teilnehmern um die zweite und dritte Generation von Widerstandskämpfern, Euthanasieopfern und anderen Verfolgten des Naziregimes handelt. Auch Nachfahren von SS-Aufsehern sind anwesend. Daneben Studenten und Studentinnen der Geschichte, der Agrarwirtschaft, der Soziologie…, Landschaftsarchitekten, Landwirte, Archivare, Lehrer, Klimaschützer, Mitarbeiter von Politikern, von Gedenkstätten, von Vereinen und Institutionen, die sich für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und/oder Präventionsarbeit einsetzen. Die Altersstruktur ist mit etwa 18 bis 75 Jahren recht gemischt.
Viele Teilnehmer sind aus der Region bzw. aus der Bundeshauptstadt Berlin, andere kommen aus Niedersachsen, dem Breisgau, Hamburg, Bayern, Großbritannien … und sogar bis aus den USA.
Um 22 Uhr verabschieden sich die meisten. Es ist Zeit, mit den Erfahrungen des Tages alleine zu sein.
Tag 3: Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück
Heute heißt es, festes Schuhwerk anzuziehen. Über das historische Lagerareal von Ravensbrück und seine landwirtschaftlichen Produktionsstätten werden geführte Rundgänge angeboten.
Führung durch das Stammlager
So können wir uns zwischen verschiedenen thematischen Führungen durch das Stammlager entscheiden und erfahren mehr über den Bau von Konzentrationslager, Krematorium und Gaskammer, über die unterschiedlichen Häftlingsgruppen (politische Gefangene, Jüdinnen, Sinti und Roma, sog. Asoziale), die KZ-Aufseherinnen, Funktionsgefangenen, die etwa 500 Geburten im Lager, die Aktion 14 f 13, die Hinrichtungsstätte, über das Fehlen von Wachtürmen, das “Jugendschutzlager” Uckermark, über Zwangsarbeit, den Industriehof mit Produktionsstätten für traditionelle Frauenarbeiten, wie Weben, Schneidern und Flechten, die Befreiung des Lagers durch die sowjetische Armee und seine städtische Struktur mit Wasserwerk und Kläranlage.
Daneben diskutieren wir über Umweltfragen und gestalterische Aspekte. So erfahren wir z. B., dass der Einsatz von Kies oder Schlacke in Gedenkstätten die regelmäßige Verwendung von Unkrautvernichtungsmitteln nötig macht, welche wiederum zu einer erheblichen Belastung des Grundwassers führen können. Ein Aspekt, der bisher in Gedenkstätten eher vernachlässigt wurde.
Versuchsgut Comthurey
Nach dem Mittagessen geht es mit dem Auto in das nur etwa 15 km von Ravensbrück entfernte Gut Comthurey (bisweilen auch Comturei geschrieben), das zwischen dem Großen und Kleinen Gadowsee in einer sehr malerischen Landschaft lag.
Wir setzen uns vor der Zierbrunnenanlage des ehemaligen Guts in den Schatten und erfahren von einer Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück mehr über Comthurey:
Das Gut Comthurey betrug etwa 340 ha und war von der DVA (Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH) im Winter 1940/41 angekauft worden. Besitzer war bis dahin ein gewisser Theodor Regenbogen, der es hauptsächlich zur Jagd genutzt hatte. Die Leitung von Gut Comthurey übernahm SS-Gruppen- bzw. -Obergruppenführer und Chef des WVHA Oswald Pohl (SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt), welcher es für sich und seine Familie als Luxuswohnsitz ausbauen ließ. Für die Bauarbeiten auf dem Gut wurden v. a. männliche Häftlinge aus dem Konzentrationslager Ravensbrück eingesetzt, welche zu insgesamt etwa 30 Personen in Zirkuswagen hausen mussten, wo ihnen keine Sanitäranlagen zur Verfügung standen und sie aufgrund des Platzmangels sämtliche Tätigkeiten nach Feierabend in den Wagenunterkünften liegend vornehmen mussten, so dass dieses Lager bisweilen das kleinste KZ genannt wurde. Am Abend und in der Nacht waren diese Wagen ferner abgesperrt. Den Häftlingen war es nach Feierabend also nicht möglich, sie zu verlassen.
Weibliche Häftlinge arbeiteten später in der Landwirtschaft, Zeuginnen Jehovas als Hausangestellte im Gutshaus. Es handelte sich v. a. um Frauen aus Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Polen.
Benutzt wurde das Gut für Tier- und Fischzucht, für Obstbaumzucht und naturnahe Feldwirtschaft.
Sehr interessant ist außerdem die Aufführung eines Schauspiels von Shakespeare, zu der es am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1944 kam, wobei das Stück von einer Insassin so umgeschrieben wurde, dass der Nationalsozialismus und sein KZ-System kritisiert wurden.
Nach diesen ersten Informationen laufen wir durch das Dorf und sehen noch erhalten gebliebene Teilbereiche, die sich heute alle in Privatbesitz befinden. Neben dem Brunnen sind das ehemalige Wirtschaftsgebäude sowie die Landarbeitersiedlung gut erhalten. Teile der Terrassenanlage sind noch in Grundzügen erkennbar, die ehemalige Imkerei wurde zu einem Ferienhaus umgebaut.
Erwähnt wird auch das Gut Brückenthin, auf dem 1942 Himmlers Geliebte Hedwig Ponthast mit den beiden gemeinsamen Kindern einzog.
Nach einer Pause bei Bienenstich und Kaffee bzw. Tee versammeln wir uns zu einem sehr berührenden “kritischen Gedenken” am Schwedtsee.
Forschungsbörse
Danach findet eine Forschungsbörse statt, in der Wissenschaftler über ihre aktuellen Forschungsprojekte informieren: “Menschliche Arbeitsmaschinen”: Reflexionen zum Diskurs des NS-Regimes über sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz sowie Das visuelle Framing der Shoah: Entstehung, Überlieferung, Ausstellung von Fotografien aus den Jahren 1933 – 1945.
Amadeu Antonio Stiftung
Marius Hellwig von der Amadeu Antonio Stiftung berichtet ferner über völkischen Rechtsextremismus in ländlichen Gebieten in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern und beantwortet Fragen zu völkischer Ideologie, zu Wiking-Jugend, Artamanen, Ludendorffern, zu rechtsextremer Bildsprache, Kindern aus völkischen “Sippen” in Bildungseinrichtungen und insbesondere an Waldorfschulen. Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich für eine demokratische Zivilgesellschaft ein, die sich gegen Rechtsextremismus, Sexismus, Rassismus sowie gegen andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit richtet und unterstützt überall in Deutschland Initiativen, die sich in Jugendarbeit und Schule sowie im Opferschutz und in der Opferhilfe engagieren. Benannt wurde die Stiftung nach Amadeu Antonio, der im Jahr 1990 in Brandenburg von Rechtsextremisten zu Tode geprügelt wurde, weil er schwarz war.
Anschließend klingt der Abend bei einer Brokkoli-Kartoffelpfanne mit Salat aus. Gelegenheit, weitere Teilnehmer der Sommeruniversität kennenzulernen und über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu sprechen.
Tag 4: NS-Landwirtschaft im politischen Kontext
6 Uhr: Die ersten Sonnenstrahlen machen sich bemerkbar. Nach einer heißen Dusche geht es heute erst einmal spazieren, bevor dann ab halb acht das Frühstück bereit steht. Der Tag ist ziemlich voll und ich möchte mir vorher noch etwas die Füße vertreten.
Raumpolitik und Hungerkriminalität
Ab 9.30 Uhr stehen drei Vorträge an: Die nationalsozialistische Landwirtschaft: eine Einführung mit Prof. Dr. Gustavo Corni von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Der ‘Generalplan Ost’: Raumpolitik und Bevölkerungspolitik mit Prof. Dr. Sabine Schleiermacher vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin sowie Hungerkriminalität: zu Überlebensstrategien polnischer Zwangsarbeiterinnen auf deutschen Bauernhöfen (1939 – 1945) mit Dr. Katarzyna Woniak.
Es geht um Raumplanung und Bevölkerungspolitik, Marktregulierung, das Reichserbhofgesetz, die Blut-und-Boden-Politik, Deportation von unerwünschten Bevölkerungsgruppen, Umvolkung, die Kolonialisierung der Westgebiete, Volk und Nahrungsfreiheit, den Reichsplan Ost, germanische Siedlungspolitik, Zwangsarbeiter, Darré und die Idee des selbstständigen Bauernhofs, den Reichsnährstand, Hungerkriminalität und die damit verbundenen Strafen, die Unterversorgung von Zivilarbeitern…
Alles sehr spannend, auch wenn sich die Konzentrationsfähigkeit nach drei Vorträgen allmählich zu Ende neigt.
Die Zeit bis zum Mittagessen nutze ich, mir im Dokumentationszentrum ein paar Bücher über Ravensbrück und seine Häftlinge auszusuchen.
Nationalsozialistische Agrarpolitik und Kriegsvorbereitung
Nach dem Mittagessen kann zwischen drei verschiedenen Workshops gewählt werden. Ich entscheide mich für ein Angebot, das sich mit der Zwangswirtschaft des 1. Weltkriegs sowie mit der Konzipierung der nationalsozialistischen Agrarpolitik im Hinblick auf die Vorbereitung eines Krieges befasst und zwei Modelle der Ausbeutung der eroberten Gebiete miteinander vergleicht. Eine Entscheidung, die ich nicht bereue, obwohl sich die anderen Workshops auch sehr interessant angehört haben.
Danach bleibt eine gute halbe Stunde Zeit, den Teil einer Ausstellung in einem der SS-Oberführerhäuser zu besichtigen, in dem es v. a. um die SS-Oberführer, ihre Frauen und ihr Leben in Ravensbrück und in anderen Konzentrationslagern geht.
Mit einem Abendessen im Freien, der Vorführung eines Films mit Interviews zu in Niederbayern eingesetzten Zwangsarbeitern und einem anschließenden gemütlichen Beisammensein in der Bar der Jugendherberge ist auch der Abend sehr gut ausgefüllt.
An zahlreichen Informationen und Bekanntschaften reicher falle ich um 23 Uhr schon fast meinem Bett entgegen, obwohl ich sonst eigentlich eine regelrechte ‘Nachteule’ bin. Mütze Schlaf dringend gebraucht!
Tag 5: Die SS-Versuchsanstalt (DVA) und ihre Orte
Ein Auge komplett geschwollen … Heuschnupfen … Es gibt Schlimmeres! Tablette eingeworfen und ab zum Frühstück.
Auch an Tag 5 unserer Sommeruniversität stehen ab 9.30 Uhr mehrere Vorträge auf dem Programm:
Was hat der Reichsführer SS mit Heilkräutern zu tun? Zur Geschichte der SS-Versuchgüter des KZ Dachau und der Nutzung des historischen Areals von 1945 bis heute mit Dr. Gabriele Hammermann und Dr. Stefanie Pilzweger-Steiner von der KZ-Gedenkstätte Dachau, Auszeit vom KZ-Alltag: das Bretstein-Album mit Stefan Matyus von der Gedenkstätte Mauhausen, Die SS-Versuchsgüter im Umfeld des Konzentrationslagers Ravensbrück mit Kristin Witte von der Gedenkstätte Ravensbrück und – last but not least – Ausschwitz als ‘landwirtschaftliche Versuchsstation für den Osten’ mit Dr. Andrea Rudorff vom Fritz-Bauer-Institut.
Zur Vertiefung der Vormittagsvorträge werden am Nachmittag Workshops angeboten.
Zwischen Abendessen und Abendvortrag zum Architekten Alwin Seifert wage ich mich nochmals in das SS-Führerhaus, das ich aufgrund des engen Zeitplans scheibchenweise besichtige. Die Ausstellung dort lohnt sich übrigens unbedingt!
Tag 6: Themen und Konzepte der NS-Agrarpolitik
Über Nacht ist der Herbst eingezogen. Da die Mitarbeiter der Gedenkstätte uns heute auf unseren Wunsch hin auch eine Führung zum Jugendkonzentrationslager Uckermark anbieten, startet unser Programm heute 90 min früher als sonst. Mit Autos fahren wir zunächst bis zum Männerkonzentrationslager und gehen dann zu Fuß weiter.
Jugendkonzentrationslager und Vernichtungsort Uckermark
“Wir wünschten, dass es ein so schöner Ort sei, wie er aussah, aber das erwies sich als Illusion.” (Stanka Simonetti)
Nach der Entstehung eines “Jugendschutzlagers” für männliche Minderjährige im Sommer 1940 wurde auch für weibliche Jugendliche ein Lager gefordert. So erwarb die SS im Jahr 1941 ein Areal in der unmittelbaren Nähe des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück und errichtete dort ein “Jugendschutzlager” für junge Frauen und Mädchen, in das die ersten “Zöglinge” im Juni 1942 eingewiesen wurden.
Anfang 1945 ließ die SS das Jugendkonzentrationslager Uckermark zu einem großen Teil räumen. Stattdessen wurde dort ein Sterbe- und Selektionslager für KZ-Häftlinge eingerichtet, in dem Gefangene durch Unterversorgung gezielt getötet und teilweise auch mit Gift bzw. Schlafmitteln umgebracht oder von SS-Ärzten zum Abtransport in die Gaskammer selektiert wurden.
Von dem Lager, in dem bis 6000 bis 8000 Gefangene untergebracht waren, sind heute nur noch Fundamente übrig. Infotafeln informieren ferner über die Geschichte des Jugend-KZ, über einzelne Häftlinge sowie den Alltag im Mädchen-KZ.
Das Körperideal in der NS-Rassenideologie
Der erste Vortrag des Tages startet um 9.30 Uhr. Er befasst sich mit dem Menschenbild der “Blut-und-Boden”-Ideologie und der Frage, was für ein Bild vom nordischen Menschen von Richard Walther Darré propagiert wurde. Dr. Gesine Gerhard führt ferner aus, inwiefern die Ideologie Darrés rassistisch besetzt war, und erläutert, wie Prinzipien aus der Zucht von Tieren auf Menschen übertragen werden sollten, was u. a. zu einer Unterteilung von Frauen in vier Kategorien, zu Blutschutzgesetzen und letztlich auch zu Zwangssterilisierungen führte. Wir erfahren auch, wie der “schöne deutsche Körper” von den Nationalsozialisten inszeniert und zelebriert wurde und wie sich hierzu Künstler, wie Anna Koppitz, Wolfgang Willrich und Arno Breker, bereitwillig hingaben.
Ziele nationalsozialistischer Ernährungsforschung
Nach einem Vortrag von Matthias Mockner zur biologisch-dynamischen Landwirtschaft im Nationalsozialismus referiert Prof. Dr. Christoph Kopke von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin über Hintergründe, Fragestellungen und Ziele nationalsozialistischer Ernährungsforschung, über erzeugungspolitische Mobilmachung, Schaffung von Forschungseinrichtungen, geschickte Verwaltung des Mangels, Verbraucherlenkung, Krautsche Studien, die gezielte Unterversorgung von Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen, Patienten und Patientinnen in Heil- und Pflegeanstalten, den verstärkten Anbau von Ölpflanzen… Für mich einer der interessantesten Vorträge der Sommeruniversität, welchen ich – gemeinsam mit etwa 20 weiteren Teilnehmern und Teilnehmerinnen – am Nachmittag in einem zweistündigen Workshop vertiefe.
Da sich in der Pause zwei Busse mit norwegischen Schülern und Schülerinnen in Richtung SS-Führerhaus aufmachen, verzichte ich auf die heutige Etappe meines Besuches der dortigen Ausstellung.
Nach dem Abendessen klingt der Tag mit einem hundertminütigen Film zu den SS-Sammelkommandos, also einer großen Tibetexpedition, aus. Für den anschließenden Austausch bin ich zu müde. Mein Gehirn ist saturiert, mein Bett “ruft”, dabei ist es gerade einmal 21.45 Uhr.
Tag 7: Ökologische Landwirtschaft im 20. Jahrhundert
Regen … Schade, dass wir an unserem letzten Tag nicht draußen frühstücken können! Der Natur jedoch tut der Niederschlag sicherlich gut.
Wieviel Grün ist in Braun?
Zum Abschluss unserer Sommeruniversität befasst sich Prof. Dr. Körner von der Universität Kassel mit der Frage, wieviel Grün sich in Braun befindet bzw. ob das, was die Nationalsozialisten gemacht haben, ökologisch war oder nicht. Er geht dabei auf Alwin Seifert, Reinhold Tüxen, Richard Hansen und Darré ein, befasst sich mit Autobahn- und Brückenbau, der Schaffung von Landmarken und Sichtachsen, der Auswahl von Pflanzen für einen bestimmten Standort, mit einheimischen Pflanzen und fremden Arten.
Es folgen Fragen des Publikums sowie Impulse von Dr. Sylvia Necker, University of Nottingham, und Antje Kölling von Demeter e. V.
Nach einer Kaffeepause gibt es noch eine Feedbackrunde zur Sommeruniversität sowie ein letztes gemeinsames Mittagessen, an das ich einen Besuch im ebenfalls in der Nähe gelegenen Konzentrationslager Sachsenhausen anschließe.
Mein Fazit:
Eine intensive, gut organisierte Woche mit vielen Begegnungen und sehr viel Input zu Zwangsarbeit, nationalsozialistischer Agrarpolitik und KZ-System, für die sich die Reise durch halb Europa gelohnt hat.
Danke an alle Organisatoren, Dozenten, Teilnehmer… sowie an das Personal der Jugendherberge Ravensbrück und an meine Freundin Heike, die sich in der Zeit um meine Tochter gekümmert hat.
Auf das Thema der Sommeruniversität 2019 bin ich natürlich schon sehr gespannt und hoffe, wieder dabei sein zu können!
Sie benötigen einen Korrektor oder Übersetzer vom Französischen ins Deutsche, der im Bereich Erinnerungskultur, Nationalsozialismus, Judenverfolgung … arbeitet? Dann kontaktieren Sie mich!
Fotos: Andrea Halbritter, Côté Langues