Buchtipp Erinnerungskultur: Beschäftigung mit einem Erinnerungsdefizit
Annette Leo räumt mit ihrem Buch Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie mit einem Erinnerungsdefizit auf.
Während der jüdische Junge Stefan Jerzy Zweig als das Buchenwald-Kind im Roman Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz nämlich weltweit bekannt wurde, wusste man über die Leidensgeschichte des jungen Willy Blum lange Zeit nichts.
Dabei ist das Schicksal von Stefan und Willy auf untrennbare Weise verwoben, verbindet die beiden doch eine gemeinsame Nummer auf einer Transportliste nach Auschwitz.
Vergessene Opfergruppe Sinti und Roma
Die 1948 geborene Historikerin und Publizistin Annette Leo erzählt die Geschichte der Familie Blum und befasst sich damit zugleich mit einer Opfergruppe, über deren Verfolgung in der Nachkriegszeit lange kaum gesprochen wurde: den Sinti und Roma.
Die Liste mit 200 Namen von Kindern und Jugendlichen, auf der sich Stefan und Willy befinden, wird im September 1944 im Konzentrationslager Buchenwald erstellt. Zwölf Namen, darunter der von Stefan, sind darauf durchgestrichen und werden auf einem Zusatzblatt durch Namen von anderen Kindern und Jugendlichen ersetzt. An Stefans Stelle rückt der vermutlich am 24. Juni 1928 im Harz geborene Sinto Willy Blum, welcher sich freiwillig für den Abtransport nach Auschwitz-Birkenau (und damit die Vergasung) gemeldet hat, um seinen jüngeren Bruder Rudolf nicht allein zu lassen.
Die Geschichte der Familie Richter-Blum
In ihrem berührenden Buch geht Annette Leo der Geschichte der Familie Richter-Blum nach, welche bis zu ihrer Verhaftung mit einem Wandermarionettentheater über das Land zieht und in kleineren Städten und größeren Dörfern auftritt.
Annette Leo erläutert, dass Sinti und Roma zu Beginn des Dritten Reiches noch nicht von Verfolgung betroffen sind. Sie unterstreicht jedoch gleichzeitig, dass in München über die Grenzen Bayerns hinaus bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts Daten über Sinti und Roma gesammelt wurden und sich die Nationalsozialisten später mit Erlass ihres “Blutschutzgesetzes” – wie bei der jüdischen Bevölkerung auch – auf bereits bestehende Vorurteile stützen können.
Die Verfolgung von Sinti und Roma
Die Historikerin zeigt, wie sich das Netz der Verfolgung auch für Sinti und Roma ab 1938 zuzieht, es zu ersten Berufsverboten und zum Ausschluss in Berufsverbänden kommt, so dass die Erteilung von Gewerbegenehmigungen nicht bzw. kaum mehr möglich ist.
Für die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer war ferner ein Ariernachweis nötig. Wer weiter als Schausteller bzw. Künstler arbeitet, anstatt schlecht bezahlte Hilfsarbeit zu verrichten, welche von den Arbeitsämtern vermittelt werden, wird als “arbeitsscheu” klassifiziert und in ein KZ eingeliefert.
Annette Leo erklärt ferner, dass ein Erlass von Himmler vom 8.11.1938 verlangt, dass alle “sesshaften und nichtsesshaften Zigeuner” sowie alle nach “Zigeunerart umherziehenden Personen” im Deutschen Reich und den annektierten Territorien rassenbiologisch untersucht werden.
Sie zeigt anschaulich, wie die Zwangsmaßnahmen gegen Sinti und Roma nach Beginn des Krieges weiter verschärft werden und es schließlich im Oktober 1939 zum Festschreibungserlass kommt, welcher allen Sinti und Roma jegliche Bewegung verbietet. Wer sich nicht daran hält, wird in ein Konzentrationslager eingeliefert.
Im Jahr 1938 gelingt es der Familie Blum noch, in Hoyerswerda einen Gewerbeschein zu bekommen, so dass sie noch bis Anfang 1942 als Marionettenspieler auftreten können.
Im Februar 1942 wird Aloys Blum dann das Wandergewerbe aus “rassischen Gründen” verboten. Kurz darauf werden zwei seiner Söhne von der Wehrmacht ausgeschlossen und vier seiner Kinder zu Zwangsarbeit verpflichtet.
Ende Januar 1943 verfügt Himmler, dass sämtliche “Zigeuner und Zigeunermischlinge” in Konzentrationslager einzuweisen sind. Vater Aloys Blum wird bereits im Mai 1942 verhaftet, der restliche Teil der Familie wird zum Großteil im März 1943 nach Auschwitz verschleppt.
Annette Leo beschreibt, wie das Leben der Blums und anderer Sinti und Roma in Auschwitz aussieht, und geht dabei auch auf die Menschenversuche des Josef Mengele und auf die im Konzentrationslager grassierenden Seuchen und Krankheiten ein.
Im Sommer 1944 wird die Familie schließlich getrennt und auf verschiedene Konzentrationslager, nämlich Buchenwald, Ravensbrück und Mittelbau-Dora, verteilt.
Im Konzentrationslager Buchenwald verbleiben von der Familie schließlich nur noch Willy und sein 10-jähriger Bruder Rudolf, welcher dann im September zurück nach Auschwitz-Birkenau geschickt werden soll.
Diskriminierung von Sinti und Roma in der Nachkriegszeit
Interessant ist auch das letzte Kapitel des Buchs, in dem Annette Leo anhand vieler Beispiele erklärt, wie sich die Diskriminierung von Sinti und Roma auch nach dem Krieg bei den Entschädigungsverfahren fortsetzt. So war eine Wiedergutmachung von Schäden, die außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik entstanden waren, beispielsweise nicht möglich und Symptome und Krankheiten wurden häufig nicht als Folgen der Haft anerkannt.
Zurecht erläutert die Historikerin auch, dass der Begriff “Entschädigung” im Deutschen bereits falsch gewählt ist, da er das Rückgängigmachen eines Schadens suggeriert.
Meine Meinung zum Buch
Das Kind auf der Liste ist ein interessantes und berührendes Werk, welches am Beispiel der Familie Blum-Richter anschaulich zeigt, wie Sinti und Roma im Dritten Reich verfolgt und auch danach noch diskriminiert wurden.
Für eine Lesepause kann im Mittelteil dieser Neuerscheinung geblättert werden, wo sich einige Abbildungen mit Fotos der Familien Blum und Richter, Blatt 2 der Transportliste sowie deren Zusatzblatt und diverse amtliche Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus befinden.
Annette Leo: Das Kind auf der Liste. Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie. Aufbau Verlag, Berlin 2018, ISBN 975-3-7466-3431-9, 189 Seiten
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Foto: © Andrea Halbritter, Côté Langues