1945 wurde Deutschland nach 12 Jahren vom Naziregime befreit. Viele empfanden dies als Niederlage, für meine Großeltern war es tatsächlich eine Befreiung, auch wenn es mit der Entnazifizierung suboptimal lief. Täter*innen wurden häufig nur milde oder gar nicht bestraft, Wiedergutmachung und Entschädigung zogen sich hin.
Mein Opa, Lorenz Kast, war als RGO-Funktionär und Mitglied der KPD von Juni 1933 bis Februar 1935 in Dachau in Haft. Meine Oma, Mina Kast, verlor ihren ersten Ehemann Leonhard Haußmann im Konzentrationslager Dachau. Er wurde dort bereits am 17. Mai 1933 erschossen. Mina selbst befand sich wochenlang in Schutzhaft in einem Gefängnis in Augsburg. Nach ihrer Entlassung schikanierten sie die Nazis über Jahre und bedrohten sie mit der Einweisung in ein Arbeitslager – weil Leonhard ein vehementer Nazi-Gegner gewesen war.
80. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau – meine ganz persönlichen Highlights
Seit ein paar Jahren gehöre ich dem Internationalen Dachau-Komitee an. Seine Mitglieder treffen sich jeden Frühling zu den Befreiungsfeiern in Dachau – ganz klar für alle ein Highlight des Jahres. Wir gedenken nicht nur den Häftlingen, sondern beleben die Gemeinschaft und Verbundenheit wieder, die unsere Vorfahr*innen im KZ Dachau miteinander teilten. Die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau werden uns sicher ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Meine schönsten Momente verrate ich dir in diesem Blogartikel.

#1 Unerwartete Begegnung während des Nachkommen-Forums
Auf Anregung der 2. und 3. Generation kam es 2025 in Dachau erstmals zu einem Nachkommen-Forum – mit Podiumsdiskussion und viel Gelegenheit zum Austausch. Im Vorfeld war es möglich, für das Treffen Plakate mit Informationen zu den eigenen Verwandten anzufertigen, die im KZ Dachau inhaftiert waren. Für diese Aktion erstellte ich Plakate zu Leonhard und Lorenz in drei Sprachen und befestigte sie an den dafür vorgesehenen Stellwänden.
Während ich herumlief, um die Biografien anderer Häftlinge zu entdecken, stach mir ein Plakat mit der Überschrift „Richard Piper“ ins Auge. Ein Name, der mir wohlbekannt war. Seit 2020 nämlich arbeite ich intensiv an einem Buch über die Geschichte meiner Familie und die frühen Opfer des KZ Dachau. Unterlagen des Staatsarchivs München konnte ich entnehmen, dass Richard Piper Ende April 1933 mit Leonhard in das KZ Dachau eingewiesen wurde. Im Bus von Augsburg in das Konzentrationslager saß er sogar neben Hartl. Von Richard liegen mir etliche Aussagen im Rahmen des Spruchkammerverfahrens und anschließenden Prozesses vor dem Landgericht München II gegen Leonhards Mörder vor. Näheres über Richard wusste ich jedoch nicht.
Seine Angehörigen wollte ich unbedingt treffen. Nicht einfach, sie unter den Hunderten an Nachkommen zu finden, die sich für das Forum angemeldet hatten. Während ich vor mich hinmurmle: „Ich muss unbedingt die Person finden, die zu Richard Piper gehört!“, spricht mich eine Frau in meinem Alter an: „Das Plakat ist von mir. Ich bin die Großnichte von Richard – Monika Volz!“
#2 Treffen mit Nachkommen von US-Befreier*innen
Sehr emotional waren auch die Treffen mit Nachkommen von US-Befreier*innen – die meisten davon unerwartet. Zunächst einmal bei unserem Gedenken am Waldfriedhof in Dachau. Im Nordteil des Friedhofs befindet sich eine terrassenförmige Grabanlage für 1312 KZ-Opfer. Bestattet sind dort Dachau-Häftlinge, die nach der Befreiung des KZ am 29. April 1945 an den Folgen ihrer Haft starben. Ein paar davon wurden in den 1950er Jahren exhumiert und in ihre Heimatländer überführt. In die freigewordenen Gräben wurden aus KZ-Friedhöfen in Oberbayern Personen umgebettet, die während der Todesmärsche gestorben waren.
Begegnungen auf dem Waldfriedhof in Dachau
Beerdigt sind auf dem Gräberfeld auch polnische Wachleute, die im Internierungslager Dachau tätig waren. In der Nähe Mahnmale zum Gedenken an jüdische, polnische und österreichische Opfer sowie ein Gedenkstein, der an die Toten des Dachauer Aufstands am 28. April 1945 erinnert. An jenem Tag waren entflohene KZ-Häftlinge mit einigen Dachauer Bürger*innen in das Rathaus der Stadt gestürmt, um sie vor dem Eintreffen der US-Truppen zu befreien. Der Aufstand wurde von der SS niedergeschlagen.
Jedes Jahr beginnen wir die Gedenkfeiern am Waldfriedhof in Dachau – dieses Mal mit Nachkommen der US-Truppen, die das KZ Dachau befreit hatten. Bereits am Friedhof ergaben sich interessante Gespräche. Am nächsten Tag stand ein gemeinsames Abendessen auf dem Programm. Die verschiedenen Gruppen mischten sich zunächst nicht – bis ein älterer Herr ans Mikrofon trat und dazu aufrief, zwecks gegenseitigen Kennenlernens die Plätze zu wechseln.
Gespräch mit dem Enkelsohn von Lee Miller
Ich war gerade dabei, mich mit dem Sohn eines norwegischen Widerstandskämpfers auf Französisch zu unterhalten, als ein etwa 30-Jähriger an unseren Tisch trat. „Please sit down!“ Ich versuchte, eine Konversation zu starten: „Was your grand-father a liberator?“ – „No, my grand-mother!“
Instant war mir klar, wer bei mir am Tisch saß. Ein Jahr vorher hatte ich auf dem Weg von meiner Ausbildung zur Museumspädagogin im Zug von Köln nach Augsburg ein Buch über Lee Miller verschlungen – die Fotografin und Journalistin, die die 42. Rainbow Division begleitet hatte. „Your grand-mother was Lee Miller?“ – „Yes!“ Eine bewundernswerte, emanzipierte, moderne Frau, die sich in Hitlers Badewanne räkelte und den Horror, den sie in Dachau sah, nie überwand.
Was für eine tolle Überraschung! Sohn Antony Penrose lud am selben Abend noch zu einem Vortrag über seine Mutter ein. Definitiv Momente, die ich nie vergessen werde!

#3 Würdigung der 42. Rainbow Division und der 45. Infantry Division
Ähnlich bewegend die Übergabe des General-André-Delpeche-Preises an die 42. Rainbow Division, die am 29. April 1945 das KZ Dachau befreit hatte – mit Beteiligung der 45. Infantry Division, deren Vertreter*innen eine Urkunde erhielten. Alle Nachkommen wurden von den Soldat*innen per Handschlag begrüßt und bekamen eigens angefertigte Geschenke: Aufkleber und Buch-Einmerker.
Der 100-jährige anwesende US-Befreier Bud Gahs: „Als wir das KZ sahen, wussten wir wofür wir gekämpft hatten.“
#4 Mahnende Worte der Überlebenden
Highlight wie jedes Jahr: die mahnenden Worte der Überlebenden – bei der Feier am Krematorium, in Hebertshausen, am Todesmarschdenkmal und im großen Zelt am Sonntag.
Jean Lafaurie, Abba Naor, Ernst Grube, Mario Candotto, Leslie Rosenthal … und von George Hope, Sohn von Nick Hope, und Andrej Smirnov, Nachfahre eines sowjetischen Kriegsgefangenen, der von der SS auf dem Schießplatz Hebertshausen erschossen wurde.
#5 Schokolade von Jeremy
Wehmut am Sonntagnachmittag – wie immer, wenn sich die Befreiungsfeierlichkeiten in Dachau zu Ende neigen. „Wait, Andrea! I have something for you.“ Jeremy Stuehmeyer, der jedes Jahr Nick Hope begleitete – sein Vater Henry hatte Nick befreit – drückt mir Schokolade mit der Aufschrift „Ration chocolate block Dachau Liberation 80th anniversary 1945–2025“ in die Hand. Nach einem Rezept, wie die US-Truppen Schokolade in Bayern verteilt haben. Sie schmecke ziemlich bitter, nicht wie wir sie gewohnt seien, ich solle sie am besten zu schwarzem Tee essen.
Wie nett ist das denn?
Bleibt mir nur eins:
Vielen Dank an alle für die wundervollen Begegnungen und auch für die großartige Organisation! See you next year.
