Buchtipp Erinnerungskultur: Amesberger et alii: Sexualisierte Gewalt
Die Studie Sexualisierte Gewalt von Helga Amesberger, Katrin Auer und Brigitte Halbmayr erschien erstmals 2004 und liegt heute in ihrer fünften Auflage vor, für die ein Abschnitt aktualisiert wurde.
Im Buch zeigen die drei Politikwissenschaftlerinnen, wie im Nationalsozialismus historische Bedingungen und Kontexte zu Prostitution, zu Sexzwangsarbeit und sexueller Ausbeutung in Konzentrationslagern ausgesehen haben. Dargestellt wird die Wechselwirkung zwischen NS-Ideologie und Unterdrückung durch die Nationalsozialisten in ihrer Verknüpfung mit Judenfeindlichkeit, Rassismus, Antifeminismus und Heterosexismus.
Nationalsozialistische Genderkonzeptionen und Rassenpolitik
Eingegangen wird auf Geschlechterideologie, nationalsozialistische Genderkonzeptionen und Sexual- und Bevölkerungspolitik des NS-Regimes, das die Frau als Mutter und “Hüterin der Moral und der gesellschaftlichen Ordnung” idealisierte und in seinem patriarchalischen System darauf abzielte, die Selbstbestimmung von Frauen zu unterbinden. So galt Kinderlosigkeit z. B. als Verrat am Volk und Ehen sowie Geburten unterlagen den Forderungen der nationalsozialistischen Rassenpolitik und Rassenhygiene.
Interviews mit 43 KZ-Überlebenden
Im Mittelpunkt des Werks stehen Interviews mit insgesamt 43 Frauen, die ihre Inhaftierung in Konzentrationslagern überlebten, wobei die meisten von ihnen ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt worden waren.
Angesprochen werden sowohl Erlebnisse sexualisierter Gewalt als auch sexuelle Kontakte zwischen Häftlingen sowie zwischen inhaftierten Frauen und SS. Weitere Themen sind die hygienischen Bedingungen im Konzentrationslager sowie Schwangerschaft und Mutterschaft während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
Ganz spezifische Formen an sexualisierter Gewalt
Berücksichtigt wird dabei insbesondere auch die Tatsache, dass der Nationalsozialismus und sein Gewaltsystem zu ganz spezifischen Formen an sexualisierter Gewalt führten.
Sexualisierte Gewalt und Traumata
Die drei Autorinnen befassen sich auch mit den dadurch ausgelösten Traumata, mit primärer und sekundärer Traumatisierung, posttraumatischen Belastungsstörungen von KZ-Überlebenden sowie anderen Verfolgten des NS-Regimes und deren Nachfahren. Betrachtet werden hierbei auch Überlebensstrategien, wie innerer Rückzug, Verdrängung von Gefühlen oder die Identifizierung mit dem Aggressor, also das sog. Stockholm-Syndrom.
Lagerbordelle als Teil der Prämienordnung
Lagerbordelle waren eine Folge der Forderung nach einem sog. FFF-System (Freiheit, Fressen, Frauen). Ziel einer Prämienordnung mit Hafterleichterungen, Verpflegungszulagen, Tabakbezug, Geldprämien und Bordellbesuchen war auch, eine Entsolidarisierung der Häftlingsgemeinschaft durch eine weitere Hierarchisierung, bei der manche Gruppen z. B. vom Bordellbesuch ausgeschlossen wurden. Lagerbordelle wurden außerdem dazu benutzt, homosexuelle Häftlinge “Abkehrprüfungen” zu unterziehen.
Die Strategie der “freiwilligen Meldung”
Amesberger, Auer und Halbmayr beschäftigen sich damit, wie die Rekrutierung für Bordell-Kommandos erfolgte,und decken dabei den Mythos der “freiwilligen Meldung” auf. So betonen sie zurecht, dass es in einem Terrorsystem eines Konzentrationslagers keine Freiwilligkeit geben kann.
Vermutet wird, dass die SS mit ihrer Strategie der “freiwilligen Meldung” in Lagerbordelle verschiedene Ziele verfolgte. Zum einen hoffte man wohl, unter den Lagerinsassen ehemalige Prostituierte als “Fachkräfte” zu bekommen, zum anderen sollten durch eine “freiwillige Meldung” wahrscheinlich moralische Bedenken männlicher Häftlinge verhindert werden und es zu einer Entsolidarisierung der weiblichen Lagerinsassen kommen, zumal Frauen, die in Lagerbordellen arbeiteten, einige Privilegien genossen.
Vergewaltigungen durch SS-Leute
Viele Frauen wussten außerdem nicht, wofür sie sich meldeten, oder wurden von der SS ausgesucht und teils auch von SS-Leuten “getestet”.
Das erste Häftlingsbordell wurde im Juni 1942 im Konzentrationslager Mauthausen eröffnet und wurde für die anderen Lager quasi zum “Vorbild”. Pro Abend mussten die zur Prostitution gezwungenen Frauen bis zu 10 Besuche über sich ergehen lassen, manche Zeuginnen reden von bis zu 40 Besuchen am Tag.
Neben den Häftlingsbordellen gab es auch Wehrmachts- und SS-Bordelle, in denen die Zwangsarbeit besonders gefürchtet war. Bereits Ende 1943 existierten in Deutschland rund 60 Bordelle für ausländische Fremd- und Zwangsarbeiter, in denen etwa 600 Frauen Sexarbeit leisten mussten.
Zusätzlich zu sexuellen Übergriffen in SS-Bordellen kam es auch anderweitig durch SS-Leute zu Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und forcierten “Liebesverhältnissen”, die für die betroffenen Frauen nicht selten tödlich endeten.
Fallgeschichten und Folgewirkungen
Einen großen Teil des Buches nehmen außerdem die Fallgeschichten von Margit, Eva und Klara ein.
Ein weiterer Schwerpunkt der Studie liegt ferner auf den Folgewirkungen sexualisierter Gewalt für das Leben der Frauen nach 1945.
Meine Meinung zum Buch
Eine akribisch aufbereitete, mutige Studie zu sexualisierter Gewalt in Konzentrationslagern und Gestapo-Gefängnissen. Flüssig und mit viel Sensibilität geschrieben, leicht lesbar. Anhand zahlreicher Interviews von Zeitzeuginnen wird klar, wie schwierig es ist, Gespräche mit ehemaligen Häftlingen zu führen und zu bewerten. Ein sehr empfehlenswertes Werk für alle, die sich für die Verfolgung von Frauen während der Zeit des Nationalsozialismus interessieren.
Amesberger, Helga/Auer, Katrin/Halbmayr, Brigitte: Sexualisierte Gewalt – Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern – Mit einem Essay von Elfriede Jelinek. Wien 20165, Mandelbaum-Verlag, 417 Seiten
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Fotos: © Andrea Halbritter, Côté Langues
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