Wer ist eigentlich Anna Marly?

Tafel mit der Aufschrift "Teamwork" und in verschiedenen Farben aufgemalten Personen


Als Übersetzerin und Texterin bin ich Teil der französischen Sozial- und Solidarwirtschaft. Im Herbst 2023 hat meine Genossenschaft im südbretonischen Saint-Nazaire neue Büroräume bezogen. Sie befinden sich in einer Straße, die nach Anna Marly benannt ist. In diesem Artikel verrate ich dir, wer Anna Marly war.

Anna Marly: Troubadour der Résistance

Anna Marly hieß eigentlich Anna Jurjewna Betulinskaja. Sie stammte aus einer adligen russischen Familie und wurde 1917 in Petrograd, dem späteren Leningrad und heutigen Sankt Petersburg, geboren. Ihr Vater wurde während der Oktoberrevolution erschossen. Ihre Mutter flüchtete mit ihren beiden Töchter und einem Kindermädchen zunächst nach Finnland. In den 1920er Jahren wanderte die kleine Familie ins südfranzösische Menton aus, wo damals viele russische Emigrant*innen lebten.

Als Jugendliche bekam Anna Musikunterricht bei Sergei Sergejewitsch Prokofjew, einem russischen Pianisten und Komponisten, der sich 1920 ebenfalls in Frankreich niederließ. Bereits im Alter von 16 Jahren war die junge Frau Teil des russischen Balletts von Monte Carlo. Ein Jahr später bekam sie ein Engagement in Paris, wo sie auch mit ersten eigenen Kompositionen auftrat und sich den Künstlernamen „Marly“ zulegte. 1937 wählten sie die russischen Emigrant*innen in Paris zur Vize-Miss Russland. Während eines Auftritts in den Niederlanden lernte Anna Marly ihren späteren Ehemann, Baron van Doorn, kennen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich flüchteten beide über Spanien und Portugal nach London.

In der britischen Hauptstadt nahm Anna mit den Vertreter*innen des freien Frankreichs Kontakt auf. Sie wurde Mitglied der von General de Gaulle ins Leben gerufenen Forces françaises libres (FFL, Streitkräfte für ein freies Frankreich), die auf der Seite der alliierten Truppen gegen den Hitler-Faschismus und das Vichy-Regime kämpften. Anna Marly arbeitete in der Kantine der FFL und hatte dort auch Auftritte. Außerdem gestaltete sie das französische Radioprogramm der BBC mit.

Die Schlacht bei Smolensk im Jahr 1941 zwischen der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee an der Grenze zu Weißrussland, bei der über 300 000 Rotarmist*innen eingeschlossen wurden, inspirierte Anna Marly zu einem Partisanenlied. Joseph Kessel und sein Neffe Maurice Druon verfassten zur Melodie 1943 einen französischen Text: den „Chant des Partisans“, der zur Hymne des französischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung wurde. Am 25. September 1943 wurde das Lied in der Zeitschrift „Les Cahiers de la Libération“ veröffentlicht. Eine Zeitlang wurde in Frankreich sogar diskutiert, es statt der „Marseillaise“ zur Nationalhymne zu machen.

Anna Marly komponierte ebenfalls  „La complainte du partisan“. Den Text zur Melodie schrieb Emmanuel d’Astier de la Vigerie, ein im Jahr 1900 in Paris geborener Offizier, Dichter und Journalist sowie führender Kopf der linken Résistance-Gruppe „Libération Sud“.

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs kehrte Anna Marly nach Frankreich zurück. Später war sie – im Auftrag der französischen Behörden – „Botschafterin des Chansons“ in Südamerika und Afrika. Ihren zweiten Mann, den Russen Juri Smirnow, lernte sie während eines Aufenthalts in Brasilien kennen. Insgesamt schrieb Anna Marly über 300 Lieder, die bekanntesten blieben „Le Chant des Partisans“ und „La complainte du partisan“. Anna Marly wurden zahlreiche Ehrungen zuteil, darunter der Orden der Ehrenlegion (Ordre national de la Légion d’honneur). Ab 1959 lebte Anna Marly mit Juri Smirnow in den USA und bekam sechs Jahre später die US-amerikanische Staatsangehörigkeit. 1980 erschien ihre Autobiografie „Troubadour de la Résistance“. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie im Jahr 2000 nach Alaska und starb dort 2006.

Als Nachfahrin deutscher Widerstandskämpfer*innen gegen das NS-Regime und Übersetzerin, die Texte für NS-Gedenkstätten erstellt, freue ich mich natürlich ganz besonders über diese neue Geschäftsadresse.

Foto: Wikimedia Commons

Diese Artikel könnten dich auch interessieren:

Erinnerungsort in Frankreich: der Steinbruch in Châteaubriant

Warum Genderzeichen an Gedenkstätten unverzichtbar sind

Frau mit schulterlangen blonden Haaren und grauen Strähnen, blauen Augen, Brille und grauem Mantel

Andrea Halbritter

Andrea Halbritter ist Nachfahrin von politisch Verfolgten des Naziregimes. Drei Mitglieder ihrer Familie waren im “Dritten Reich” im Polizeigefängnis Augsburg und/oder im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Als Übersetzerin vom Französischen ins Deutsche sowie vom Standarddeutschen in Leichte und Einfache Sprache arbeitet die Germanistin und Romanistin unter anderem im Bereich Erinnerungskultur.

Übersetzung im Bereich Erinnerungskultur bestellen