KZ-Außenlager Kaufering VIII Seestall
Eine zweispurige Straße, die sich mitten in Oberbayern durch saftig-grüne Wiesen ihren Weg Richtung Füssen bahnt. Ab und zu an ihrem Rand ein paar wiederkäuende Kühe, Haflinger, ein größerer Hof oder eine Holzscheune. Und dann plötzlich links ein grünes Schild mit der gelben Aufschrift KZ-Gedenkstätte.
Eigentlich war ich ja auf der Fahrt nach Schwangau. Im Outletstore meiner deutschen Lieblingsmarke einkaufen, mal wieder in die Wieskirche schauen, mir am Bannwaldsee die Füße vertreten, kurz: einen unbeschwerten, absolut geschichtsfreien Samstag verbringen.
Stattdessen biege ich nun kurz vor dem Gasthof Römerkessel im gleichnamigen Weiler 48 km südlich von Augsburg und 55 km nördlich von Füssen Richtung Fuchstal-Seestall ab und folge der Beschilderung KZ-Gedenkstätte. Vorbei an mit roten Geranien oder violetten Petunien geschmückten Bauernhäusern, an grünen und braunen Fensterläden. Orangefarbene Tagetes blicken mir auf manchen Gartensäulen entgegen. Vor der Kirche prangt – ganz so, wie es sich für einen bayerischen Ort gehört – ein Maibaum. Außerdem ein Hotspot (Bayern WLAN) und ein Feuerwehrhaus.
Einmal verfranze ich mich, drehe dann um und setze meinen Weg Richtung “Tal” fort, bis mir die Weiterfahrt mit dem Auto nicht mehr möglich ist. Neben einer Pferdekoppel samt Stall stelle ich mein Fahrzeug so ab, dass ich den Landwirt nicht beim Kreiseln störe, sollte ihm dies einfallen, während ich zur Gedenkstätte unterwegs bin.
Platz ist hier für maximal zwei kleinere Fahrzeuge. Rechts oder links? Das Schild ist nicht eindeutig. Ich beschließe, erst einmal den Kiesweg nach rechts zu nehmen. Zu meiner Rechten befindet sich nun die Pferdekoppel, links eine Wiese. Der Weg führt zu einem kleinen Mischwäldchen, vor dem mich das nächste Hinweisschild erwartet. Nun geht es 150 m weiter auf einem Pfad, der durch den Wald führt. Außer mir ist kein Mensch unterwegs. Durch Bäume und Büsche hindurch zeichnet sich ein See, die Lechstaustufe 12, ab. Die Strecke von Mundraching bis Landsberg bin ich vor Jahren einmal mit dem Kanu gefahren und auf dem Wasser auch hier langgekommen. Ein Paradies für Kanuten!
KZ-Gedenkstätte Seestall
Vermutlich vom anderen Ufer her ertönen Kirchenglocken. 12 Uhr. Fast trete ich auf eine Blindschleiche. Schließlich stehe ich auf einem kleinen, etwa vier Durchmesser breiten Platz, in dessen Mitte sich ein 2018 restaurierter Gedenkstein befindet. Darauf viele verschieden große Steine sowie zwei Inschriften Wir waren Juden. Das war unsere Schuld. und Errichtet von der Bayerischen Staatsregierung 1950. (Nein, nicht 1956, wie in vielen Quellen erwähnt …) Um das Mahnmal ein gemauerter Davidstern mit immergrünem Bodendecker. Weitere Informationen fehlen. Die Märchenkönig-Romantik der Romantischen Straße auch.
Ich lasse die Stille des Ortes und die Natur auf mich wirken. Dann werde ich neugierig. Zwar habe ich schon einiges über den KZ-Außenlagerkomplex Kaufering gelesen, doch weiß ich auf Anhieb nicht, um welches der zehn bzw. elf Lager es sich hier handelt. Der Versuchung, auf einem noch schmaleren Pfad am Seeufer weiterzuwandern, widerstehe ich und setze meinen Weg nach Schwangau fort.
Auf dem Rückweg halte ich am frühen Abend noch einmal und setze mich auf eine Bank in der Nähe der Pferdekoppel. Sie bietet mir ihre Wärme. Grillen zirpen, in der Ferne kräht ein einsamer Hahn, die nahe B17 hört man jetzt deutlicher als gegen Mittag. Am Ende des Horizonts zwei steil abfallende Kieshänge. Ob es sich auf der anderen Seite des Lechs um ein Kieswerk handelt?
Eine ältere Dame nähert sich auf dem Rad, grüßt und wundert sich über die ungewohnte Besucherin, die am Wegrand sitzt, Stift und Blatt Papier in der Hand. Kaum ist sie weg, lässt sich eine Schar Spatzen auf der Straße nieder. Aus der Ferne ertönt das Klopfen eines Spechts, Zitronenfalter flattern über den Teil der Wiese, der noch nicht gemäht ist. Ein Rabe kräht, mittags saß hier ein prächtiger Mäusebussard. Landschaftsschutzgebiet!
Seestall: sich widersprechende Informationen
Zu Hause angekommen, setze ich mich an den PC und wälze Bücher zum Außenlagerkomplex Kaufering. Zum Lager Fuchstal-Seestall, dem KZ-Außenlager Kaufering VIII, ist es nicht gerade einfach, Angaben zu finden. Einige Quellen verzeichnen es gar nicht, andere führen sich widersprechende Informationen an. In manchen ist die Rede von etwa 500 männlichen und weiblichen, hauptsächlich jüdischen Häftlingen, in anderen handelt es sich um 100 bis 200. Die Gemeinde Fuchstal, in die Seestall 1972 eingemeindet wurde, gibt 1000 an.
Weitgehend einig ist man sich dahingehend, dass das Lager im Herbst 1944 entstand und Ende Februar 1945 aufgelöst wurde. Ferner erfahre ich, dass sich der Gedenkstein auf einem Massengrab befindet, in dem eine unbekannte Zahl an Häftlingen bestattet ist. Während viele Quellen von bis zu 22 Toten sprechen, gibt ein Zeitzeuge die Zahl als wesentlich höher an.
Erbaut worden war das Lager von der Organisation Todt (OT). Laut Gernot Römer soll es aus etwa zehn Baracken bestanden haben, in denen jeweils 30 bis 40 Menschen untergebracht waren. Im Gegensatz zum Friedhof befand sich das Lager Seestall recht nah an der B17. Zeitzeugen erwähnen ferner Erdbunker und Wachtürme. Die Gefangenen hätten auf Stroh geschlafen, das direkt auf den Erdboden geschüttet worden sei. Verhungerte Häftlinge wurden mit einem Karren durch Seestall gezogen und ohne Bekleidung bis zum Friedhof am Lech gebracht. Dorfbewohner sollen den völlig abgemagerten Häftlingen bisweilen beim Ziehen des Karrens geholfen und ihnen dabei etwas Essen zugesteckt haben.
Unterschiedliche Angaben gibt es auch in Bezug auf die Beschäftigung der Häftlinge. Während das Haus der Bayerischen Geschichte Bauarbeiten sowie den Bau von Messgeräten für die Organisation Todt (OT) erwähnt, geben andere an, männliche Häftlinge hätten in der Landwirtschaft gearbeitet und die vorübergehend auch anwesenden Frauen seien in Haushalten des Ortes eingesetzt gewesen. Gernot Römer wiederum vermutet, dass die meisten unbeschäftigt waren.
Wie viele Häftlinge im KZ-Außenlager Seestall inhaftiert waren, wo sie herkamen und wo sie arbeiteten, wird sich vermutlich nicht mehr klären lassen.
Stand: August 2019
Fotos: Andrea Halbritter
Quellen:
Römer, Gernot: Für die Vergessenen. KZ-Außenlager in Schwaben – Schwaben in Konzentrationslagern. Augsburg 1984
Haus der Bayerischen Geschichte: Jüdischer Friedhof Seestall
Haus der Bayerischen Geschichte: Außenlager und Außenkommandos des KZ Dachau
Alemannia Judaica: Friedhof Seestall
Nachtrag: Seestall 2020
Bei meinem Besuch im Juli 2020 sieht die Situation ganz anders aus. Inzwischen finden sich vor dem Eingang zu dem kleinen Waldstück zwei beidseitig beschriftete Tafeln, die über den Lagerkomplex Kaufering, das KZ-Außenlager Kaufering VIII und seinen Friedhof informieren.
Darauf ist zu lesen, dass die SS im Konzentrationslager Auschwitz für die Untertageverlagerung im Raum Landsberg am Lech jüdische Zwangarbeiter selektierte. 500 polnische und tschechische Juden kamen am 1. September 1944 in Seestall an, wo sie zwölf primitive Erdhütten errichten mussten. Neben des Erdhütten gab es zwei Wohnbaracken für Wachpersonal, eine Küchenbaracke, einen Abort und einen Waschraum.
Im Oktober und November 1944 mussten die Häftlinge Landwirten bei der Kartoffelernte und beim Dreschen helfen. Frauen übernahmen im Lager selbst Näharbeiten. Die Männer waren außerdem beim Bau eines unterirdischen Bunkers für den Jägerstab beteiligt.
Nach der Schließung des Lagers Ende Februar 1945 wurden die Gefangenen auf andere Lager im Raum Landsberg am Lech verteilt.