Brief von Andrea Halbritter zum Dachauer Stellenstreit

Tafel mit der Aufschrift "Teamwork" und in verschiedenen Farben aufgemalten Personen


Seit ein paar Tagen schlagen die Wellen rund um die Besetzung der Stelle der Leitung der pädagogischen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau hoch. Als Nachfahrin von Verfolgten des NS-Regimes habe ich zum Dachauer Stellenstreit heute folgenden Brief an Prof. Dr. Michael Piazolo, Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus, gerichtet:

Brief zum Dachauer Stellenstreit

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo,

in der Süddeutschen Zeitung vom 3. März 2021 habe ich erfahren, dass Herr Abba Naor sich als Holocaust-Überlebender zum Stellenstreit an der KZ-Gedenkstätte Dachau geäußert hat.

Im Artikel wird Herr Abba Naor – wie folgt – zitiert:

“Aber auf alle, wirklich alle, sind die Traumata ihrer Eltern, Großeltern, die den Holocaust überlebten, übergegangen. […] Und diejenigen, die sich damit auseinandersetzen und daraus ihr Engagement für das Erinnern und die Aufklärung über die NS-Verbrechen schöpfen, sollen an einem Gedenk- und Erinnerungsort wie Dachau nicht qualifiziert genug sein?”

Wie Erika Tesar bin ich Nachfahrin von Verfolgten des NS-Regimes.

Mein Großvater mütterlicherseits, Lorenz Kast, geb. 16.08.1906 in Langenneufnach, wurde als Funktionär der RGO und KPD-Mitglied am 10.05.1933 in Schutzhaft genommen. Am 07.06.1933 oder 08.06.1933 wurde er in das Konzentrationslager Dachau verschleppt, wo er bis 26.02.1935 inhaftiert war.

Meine Großmutter mütterlicherseitsWilhelmine Kast, geb. 27.10.1906 in Augsburg-Göggingen als Wilhelmine Stippler, war im Frühjahr 1933 mehrere Wochen im Augsburger Gefängnis Katzenstadel in Haft. Ihr erster Mann ist der KPD-Stadtrat Leonhard Hausmann (auch Haußmann), geb. 27.12.1902 in Augsburg-Oberhausen. Er wurde am 17.05.1933 in Dachau erschossen und zählt damit zu den ersten Opfern des NS-Regimes.

Ich selbst bin 1968 in Augsburg geboren und habe an der Universität Augsburg Deutsch und Französisch sowie Didaktik des Deutschen als Zweitsprache für das Lehramt an Gymnasien studiert und meine Ausbildung in meinen ersten beiden Fächern mit dem 2. Staatsexamen abgeschlossen. Insgesamt war ich fast 20 Jahre im Schuldienst.

Ich kann eine umfassende pädagogische Ausbildung und ein Studium der Didaktik vorweisen (wenn auch nicht in Geschichte).

Aufgrund dieser Ausbildung bin ich der Meinung beurteilen zu können, dass es nicht ausreicht, Nachfahre von Verfolgten des NS-Regimes zu sein, um an der KZ-Gedenkstätte Dachau die pädagogische Abteilung zu leiten.

Eine solche Stelle erfordert ein Studium der Neueren und Neuesten Geschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus. Zusätzlich sind ein Studium der Geschichtsdidaktik und Erfahrung in der Gedenkstättenarbeit nötig.

Einer KZ-Gedenkstätte, wie der in Dachau, kommt insbesondere heute eine große Verantwortung zu. Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus entwickeln sich in den letzten Jahren in Deutschland zu einem zunehmenden Problem.

Bildungsabteilungen von Gedenkstätten haben hier Großes zu leisten. Um diese Aufgabe zu stemmen, reicht es nicht aus, Nachfahre von Verfolgten des NS-Regimes zu sein. Um den Anforderungen gerecht zu werden und bei Besucher*innen, Teilnehmer*innen von Workshops usw. einen Reflexionsprozess und eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte in Gang zu setzen, sind solide Kenntnisse in der Vermittlung von Geschichte nötig.

Wichtig ist, dazu anzuleiten, dass sich Besucher*innen Fragen stellen, so zum Beispiel:

Wie kam es, dass Menschen zu Tätern wurden? Warum haben so viele mitgemacht? Wieso haben sich dem NS-Regime nur so wenige widersetzt? Wieso leisteten manche Widerstand und andere nicht? Welche Parallelen zu heute gibt es? Wie können wir Ähnliches verhindern?

Ziel muss ein reflexiver Prozess sein.

Der Leitung der pädagogischen Abteilung obliegt es auch, Mitarbeiter*innen zu schulen. Wie dies ohne ein Geschichts- und Didaktikstudium möglich sein soll, entzieht sich mir völlig.

Die Vorgehensweise von Herrn Freller ist einer NS-Gedenkstätte unwürdig. Quasi von oben herab wurde von ihm über die Besetzung einer Stelle entschieden und ein Ausschreibungsverfahren ausgehebelt. Eine NS-Gedenkstätte sollte, auch was die Art der Besetzung von Stellen betrifft, eine Vorbildfunktion einnehmen. Zu favorisieren sind hier demokratische Prozesse und Mitsprache.

In seiner Stellungnahme betont der Personalrat der Gedenkstätte Dachau, dass unter den Bewerbungen durchaus einige geeignete Kandidat*innen seien, die die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen. Weshalb Herr Freller das offizielle Ausschreibungsverfahren umgeht, ist damit noch unverständlicher.

In anderen Bundesländern werden vergleichbare Stiftungen von Historiker*innen geleitet (siehe Axel Drecoll, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten oder Jens-Christian Wagner, ehem. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und jetzt Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora). Dies würde ich mir als Nachfahrin von Verfolgten des NS-Regimes auch für die Bayerische Gedenkstättenstiftung wünschen.

Wie Abba Naor und Karl Freller bin ich der Meinung, dass die 2. und 3. Generation in Gedenkstätten mehr eingebunden werden sollte.

Dies heißt jedoch nicht, dass Nachfahr*innen von Verfolgten des NS-Regimes in Gedenkstätten Bildungsabteilungen leiten, ohne die dafür nötigen Qualifikationen vorzuweisen. Nachfahre zu sein ist allein keine Qualifikation.

Mit freundlichen Grüßen

Andrea Halbritter

Wer über den Dachauer Stellenstreit wenig informiert ist, findet auf Landsberger Zeitgeschichte eine Übersicht über die Ereignisse in Dachau, bereits erschienene Zeitungsartikel und andere Stellungnahmen zum Stellenstreit.

Frau mit schulterlangen blonden Haaren und grauen Strähnen, blauen Augen, Brille und grauem Mantel

Andrea Halbritter

Andrea Halbritter ist Nachfahrin von politisch Verfolgten des Naziregimes. Drei Mitglieder ihrer Familie waren im “Dritten Reich” im Polizeigefängnis Augsburg und/oder im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Als Übersetzerin vom Französischen ins Deutsche sowie vom Standarddeutschen in Leichte und Einfache Sprache arbeitet die Germanistin und Romanistin unter anderem im Bereich Erinnerungskultur.

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