Eigentlich wollte ich, als ich an diesem heißen Sommertag aus dem ehemaligen Stammlager Dachau kam, nur noch ein schattiges Plätzchen, ein kühles Getränk und irgendetwas in den Magen. Bevorzugt ein Saftschorle oder einen Eiskaffee und ein Stück Kuchen im Dachauer Schloss.
Als ich aus dem neu errichteten Parkplatz der Gedenkstätte Dachau bog, sah ich jedoch zwei Schilder: Gedenkstätte Schießplatz und KZ-Friedhof. Ich fuhr also beiden Schildern nach und befand mich nach kürzester Zeit zwischen Feld und Wiesen sowie schließlich auf einem schmalen Kiesweg in Hebertshausen, der nach ein paar Hundert Metern durch zwei Pfosten auf einen kleinen von Laubbäumen umgebenen unbefestigten Parkplatz mündete. Unschwer zu erkennen, dass es sich bei den zwei Pfosten einmal um die Teile eines Eingangstors gehandelt haben musste.
Auf dem Parkplatz ist mir etwas mulmig. Ich bin ganz offensichtlich die einzige Besucherin. Die beiden Autos, die dort noch herumstehen, scheinen nicht funktionstüchtig. Hinter den Bäumen ein langgezogenes Gebäude, das von seiner Art her an SS-Bauten erinnert. Vermutlich im “Dritten Reich” ein ehemaliges Wirtschaftsgebäude, das noch benutzt wird. Davor stehen zwei Wäscheständer mit bunten Kleidungsstücken, die in der Sonne trocknen.
SS-Schießplatz Hebertshausen bei Dachau: Gedenkstätte für ermordete Rotarmisten
Ein Stückchen weiter eine Wiese mit allerlei Pflanzen. Dazwischen ragen Stelen aus dem Boden. Das muss dann wohl die Gedenkstätte sein. Irgendwie bin ich erleichtert, dass es nicht weiter hineingeht in die Wildnis.
Errichtet hat die SS den Schießplatz unweit des Konzentrationslagers Dachau in den Jahren 1937 und 1938. Mitglieder der SS sowie andere militärische Einheiten (SA, Deutsches Jungvolk und später auch Einheiten des Volkssturms) wurden dort an fünf Schießbahnen, zwei Schießständen sowie einen Wurfstand für Granaten im Umgang mit Waffen ausgebildet.
Der ehemalige Schießstand für Maschinengewehre und Pistolen ist ein Stück weiter noch erhalten. Totenkopfverbände und andere SS-Einheiten nutzten das Areal schon ab 1938 und sammelten dort “Erfahrungen”, die sie alsbald in Konzentrationslagern einsetzten.
Ab 1941 nutzte die SS den Ort für Hinrichtungen.
Ich laufe als erstes zu den Stelen. Was mich interessiert, ist vor allem, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Areal begangen wurden.
Es ist sehr heiß, an den Infotafeln gibt es keinerlei Schatten. Ich bin froh, dass ich einen Strohhut aufhabe.
Das Völkerrecht galt für sowjetische Kriegsgefangene nicht
Die Stelen informieren über die Geschichte des Ortes:
Mitglieder der Dachauer Lager-SS ermordeten auf dem Schießplatz Hebertshausen über 4000 sowjetische Kriegsgefangene. Außerdem wurden Verurteilte von SS- und Polizeigerichten exekutiert. Das Gelände in unmittelbarer Nähe zum Konzentrationslager Dachau war damit im Deutschen Reich einer der Hauptorte für die Exekution von sowjetischen Kriegsgefangenen.
Die Sowjetunion überfielen die Nationalsozialisten am 22. Juni 1941. Die NS-Führung sah den Krieg gegen die Sowjetunion als Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg. Ziel war, “Lebensraum” zu erobern und die Arbeitskraft von Sowjetbürgern auszubeuten. Ausgelöscht werden sollten die Führungsschicht und die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion.
Für gefangene Rotarmisten galt das Völkerrecht im Deutschen Reich nicht. Angehörige der Wehrmacht erschossen Tausende sowjetische Offiziere bereits bei deren Gefangennahme. Grundlage hierfür war der sog. Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941. Die meisten russischen Gefangenen starben jedoch aufgrund der katastrophalen Zustände in Durchgangs- und Gefangenenlagern. Die deutsche Kriegsgefangenschaft kostete etwa 3 Millionen russischen Soldaten das Leben.
Nur wenige Wehrmachtsangehörige widersetzten sich
Dass die Massenmorde gegen Völkerrecht verstießen, störte bei Gestapo, SS sowie in der Wehrmacht jedoch kaum jemanden. Stattdessen arbeitete man zusammen und beteiligte sich gemeinsam an der Ermordung sowjetischer Militärangehöriger: Die russischen Kriegsgefangenen wurden in der Regel unter Bewachung der Wehrmacht nach Dachau gebracht. Angeblich gefährliche Gefangenen, von denen man Widerstand oder die Organisation eines Aufstands befürchtete, wurden von Angehörigen der Wehrmacht selektiert und zur Liquidierung an die Lager-SS ausgeliefert.
Nur wenige Wehrmachtsangehörige verweigerten dies, was für sie keine größeren Folgen hatte. Widerstand wäre also durchaus möglich gewesen. Zu denen, die nicht bereit waren, sich an Verstößen gegen das Völkerrecht zu beteiligen, gehörte u. a. Major Karl Meinel (1877-1958), der durch eine Befehlsverweigerung 416 russischen Kriegsgefangenen zunächst das Leben rettete und dabei von seinem Vorgesetzten Generalmajor Otto von Ritter (1876-1954) gedeckt wurde. (Danach wurden diese Soldaten ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, wo wieder Selektionen stattfanden.)
Ebenso der Theologiestudent und Unteroffizier Josef Thora (1912-1997), der sich freiwillig als Begleitposten meldete, nachdem ihm bekannt geworden war, dass die SS russische Soldaten ermordete, und als Dolmetscher interne Informationen weitergab. Auch Hauptmann Wilhelm Hörmann (geb. 1895) und Oberst Hans Napf (1876-1952) verweigerten die Auslieferung von sowjetischen Kriegsgefangenen. Konsequenz für die deutschen Wehrmachtsangehörigen war im ungünstigsten Fall eine Versetzung. In der Regel konnten sie ihre Karriere aber unbehelligt fortsetzen.
An Rotarmisten wurden auch neue Mordmethoden getestet
Dennoch hatten nur wenige den Mut oder den Willen, sich dem NS-Regime zu widersetzen. So übergab die Wehrmacht bis zum Sommer 1942 insgesamt 33 000 sowjetische Kriegsgefangene an Gestapo und SS. An den Soldaten, die in Konzentrationslager überstellt wurden, testete die SS teils neue Mordmethoden, wie z. B. den Einsatz von Zyklon B oder von Giftspritzen.
Rotarmisten, die nicht erschossen oder auf andere Weise umgebracht wurden, starben meist an den erbärmlichen Bedingungen in den Konzentrationslagern. In Dachau wurden mindestens 4 000 Rotarmisten ermordet, in Mauthausen 1 000, in Auschwitz 3 500, in Sachsenhausen 11 000, in Groß-Rosen 2 500, in Neuengamme 123, in Buchenwald 8 000 und in Flossenbürg 1 300.
Für Exekutionen belohnt
Die nach Dachau verbrachten Rotarmisten wurden bereits sofort nach ihrer Ankunft getötet. Anfangs fanden die Erschießungen im Bunkerhof des KZ Dachau statt, ab Oktober 1941 dann am Schießplatz Hebertshausen. Dazu transportierte man die Rotarmisten mit LKWs auf das Areal, wo sie sich ausziehen und dann in 5er-Reihen in der rechten Schießbahn aufstellen mussten. Dann kettete man sie in der linken Schießbahn an Pfähle und tötete sie durch Kopfschuss, was die SS abhärten sollte. Fluchtversuche wurden durch auf den Wällen postierte SS-Leute verhindert. Die Toten schuf man meist wieder zurück ins Konzentrationslager, wo sie im Krematorium verbrannt wurden. Ihre Kleidung kam zur Desinfektion. SS-Angehörige bezeichneten die Hinrichtungen bisweilen zynisch als “Schützenfeste”.
Mitglieder der Exekutionskommandos wurden für die Ermordungen mit Alkohol und Zigaretten, später auch mit Urlauben in Italien belohnt.
Beispiele für am SS-Schießstand Hebertshausen ermordete Rotarmisten
Lew Michailjowitsch Kamionko wurde am 18. März 1904 in Weißrussland geboren. Seine Eltern waren Bauern. 1920 meldete er sich freiwillig zur Roten Armee, wo er eine Ausbildung zum Sportlehrer und einen Infanterielehrgang absolvierte. Nach sechs Jahren verließ er die Rote Armee zunächst und nahm verschiedene Jobs an. Ab 1938 war er mit einer kurzen Pause Oberstleutnant. Er gab u. a. Kurse in Parteidoktrin. Am 8. Juli 1941 wurde er etwa 150 km vor Brest (Weißrussland) gefangengenommen und zunächst in das Offizierslager Hammelburg verbracht. Dort sonderte ihn die Gestapo aus und ließ ihn zur Erschießung nach Dachau bringen.
Nikolaj Gawrilowitsch Gribanow stammt aus der Ukraine, wo er am 23. März 1915 geboren wurde. Mit 15 Jahren trat er in die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ein. Er erlernte den Beruf des Zeichners und absolvierte anschließend eine Fliegerschule. Im 2. Weltkrieg diente er als Leutnant in einem Bombergeschwader. Er wurde am 25. Juni 1941 gefangengenommen und wie Kamionko im Offizierslager Hammelburg inhaftiert. Von dort ging es für ihn zunächst nach Nürnberg-Fürth, wo er vermutlich als Intelligenzler selektiert und daher nach Dachau zur Ermordung geschickt wurde.
Mustakim Mustefewitsch Bajbulatow war Moslem. Er wurde am 15. Juni 1916 geboren und wurde schon als Jugendlicher zum Mitarbeiter der Kommunistischen Partei ausgebildet. Ab September 1940 besuchte er die Komintern, eine militärpolitische Schule in Moskau. Im Juni 1941 geriet er in Weißrussland in Gefangenschaft und nach Hammelburg verbracht. In Nürnberg-Fürth sonderte man ihn zur Tötung aus.
Da die Nationalsozialisten befürchteten, dass die Bevölkerung den Massenmord an Soldaten nicht befürwortete, versuchten sie, diesen geheim zu halten. In Dachau gelang ihnen dies jedoch nicht. Zum einen blieben die Lkw-Transporte nicht unbemerkt, zum anderen wurden die Erschießungen von Anwohnern auch akustisch wahrgenommen. Kamen nur wenige Soldaten an, wurden sie vom Bahnhof direkt auf den Schießplatz gebracht. Waren es viele, verbrachten sie zuerst eine gewisse Zeit im Konzentrationslager.
Nach dem Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen nutzte die SS das Areal in Hebertshausen auch weiter zu Hinrichtungen.
Die Dachauer Täter
Mehr als 200 Dachauer SS-Angehörige beteiligten sich an der Ermordung der Rotarmisten. Es handelte sich bei ihnen durchgehend um überzeugte Nationalsozialisten der Unter- oder unteren Mittelschicht. Ihr Durchschnittsalter betrug bei der Ermordung der russischen Kriegsgefangenen 32 Jahre. 80 Prozent stammten aus Bayern. Manche von ihnen hatten vorher bereits in anderen Konzentrationslagern Dienst geleistet. Fast alle waren verheiratet und hatten Kinder.
Im Rahmen der Dachauer Prozesse wurden elf von ihnen zum Tode verurteilt und zwischen 1946 und 1948 in Landsberg am Lech exekutiert. Die anderen Verantwortlichen konnten ihr Leben unbehelligt weiterführen oder bekamen nur eine kurze Haftstrafe.
Zu den Tätern zählte z. B. Egon Zill. Der Brauarbeitersohn wurde 1906 in Plauen geboren und starb 1974 in Dachau. Bei der Erschießung von Rotarmisten spielte er eine führende Rolle, weshalb er vermutlich auch mit einer Beförderung belohnt wurde. So leitete er ab Ende 1941 das KZ Hinzert. Sein Strafmaß wurde zunächst auf lebenslänglich, dann auf 15 Jahre festgesetzt.
Karl Minderlein (1909-1976) beteiligte sich zunächst an den Erschießungen, verweigerte dann aber den Befehl, weshalb er sieben Monate im Bunker verbrachte und dann an die Front versetzt wurde.
Lagerarzt Julius Muthig wurde 1908 in Aschaffenburg geboren. Wann er starb, ist unbekannt. In den Jahren 1940 bis 1942 war er als Arzt mehrere Monate zur Feststellung des Todes von Erschossenen anwesend. Nach 1945 arbeitete er weiter als Arzt.
Theodor Bongartz war als Leiter des Krematoriums Dachau für die reibungslose Einäscherung der Ermordeten zuständig. Am 9. April ermordete er persönlich den Hitler-Attentäter Georg Elser durch einen Genickschuss. Bongartz verstarb 1945 in einem Heilbronner Kriegsgefangenenlager.
Alexander Piorkowski wurde 1904 in Bremen geboren und trug als Kommandant des KZ Dachau die Verantwortung für die Erschießungen. Die Durchführung überließ er in der Regel anderen. Er wurde im Oktober 1948 in Landsberg am Lech hingerichtet.
Ein erstes Mahnmal
1946 ließ die Lagergemeinschaft Dachau auf dem ehemaligen SS-Schießplatz ein erstes Mahnmal errichten. Es steht noch heute. Zur Gedenkstätte wurde der Bereich 2014. Neben den Stelen mit Informationen befindet sich vor den Schießständen heute auch die Installation “Ort der Namen”, auf der die Namen der bisher bekannten sowjetischen Opfer angebracht sind.
Auch die Installation besuche ich und halte vor einzelnen Namen inne. Wer sich dahinter wohl verbirgt?
Alle Informationen vor Ort sind in drei Sprachen abgefasst: Russisch, Deutsch und Englisch.
Ein Radler kommt vorbei. Ich laufe zu meinem Auto zurück und fahre noch auf den nahegelegenen KZ-Friedhof Leitenberg.
Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg.
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Fotos: © Andrea Halbritter
Quelle:
Informationen auf den Stelen