Barrierefreiheits-Expert*innen beantworten Fragen zum BFSG

Tafel mit der Aufschrift "Teamwork" und in verschiedenen Farben aufgemalten Personen

Seit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) erreichen mich fast schon panische E-Mails von Kunden. Unternehmen, Museen und Vereine sind verunsichert und fragen: „Ist unsere Website barrierefrei?“ „Sind alle obligatorischen Inhalte in Leichter Sprache verfasst oder braucht es noch mehr?“ „Wer ist vom BFSG betroffen?“ „Brauche ich auf meiner Website Einfache Sprache?“

Ratlosigkeit macht sich breit. Manche haben große Angst. Erste unseriöse Anschreiben machen die Runde: von Agenturen, die ihre Leistungen verkaufen wollen und die deshalb vor Abmahnungen warnen: „14 Tage Frist, sonst Klage. Das kann teuer für Sie werden.“ Für dich habe ich zwei Expert*innen für Barrierefreiheit zum BFSG befragt: zu sprachlicher Inklusion, aber auch zu anderen Punkten.

Fragen zum BFSG an Barrierefreiheits-Expert*innen

Wochenlang habe ich Fragen von Kunden, Newsletter-Abonnent*innen und Follower*innen auf Social Media gesammelt. Und ich habe zwei Expert*innen für Barrierefreiheit gefunden, die sich intensiv mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz befasst haben.

Beccs Runge, Diversity- und Inklusionsberaterin bei Minzgespinst, führt Inhouse-Schulungen zu DEIB-Themen (Diversity, Equity, Inclusion, Belonging) durch.

Marc Haunschild von a11y by default ist Web Accessibility Specialist und Gutachter. Marc beschäftigt sich seit 2001 mit Barrierefreiheit. Er ist Fachbuchautor, Redner, Dozent und leitet die Kompetenzstelle digitale Barrierefreiheit in der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung.

Beccs und Marc sind keine Jurist*innen. Es handelt sich also nicht um eine juristische Beratung. Beide antworten nach bestem Wissen und Gewissen. Konkrete Einordnungen hängen jedoch vom Einzelfall ab. Sie sollten von Fachanwält*innen durchgeführt werden. Die hier gemachten Einordnungen sind trotzdem sicher für viele hilfreich und eine Orientierung, um sich weiter zu informieren.

Person mit Brille, schwarzem Hemd, scharzer Kappe und Piercings in Mund und Nase sowei Schmetterlingstatoo auf dem Hals

Fragen zum BFSG: Wer ist betroffen?

#1 Was regelt das BFSG?

Beccs: „Das BFSG regelt digitale Barrierefreiheit. Das BFSG ist für barrierefreie Internet-Seiten zuständig. Es ist auch für barrierefreie Dienstleistungen im Internet zuständig.

Zum Inhalt gehören Geräte (Computer, Laptops, Geldautomaten, Fahrkartenautomaten, Check-In-Automaten, interaktive Selbstbedienungsterminals, Handys, E-Book-Reader, Smartphones, Telefone, möglicherweise Smart-TV). Das BFSG betrifft auch Dienstleistungen (Telekommunikation zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Computer, Tickets, mobile Dienstleistungen im Bereich ÖPV (teilweise eingeschränkt), Bankdienstleistungen für Verbraucher, E-Books, elektronische Dienstleistungen, also zum Beispiel Online-Shops, Websites mit Angeboten).“

#2 Regelt das BFSG auch die bauliche Barrierefreiheit?

Beccs: „Nein. Das BFSG regelt ausschließlich digitale Barrierefreiheit. Behindertengerechte Wohnungen werden in anderen Gesetzen geregelt. Bauliche Barrierefreiheit wird in anderen Gesetzen geregelt.“

#3 Für wen gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?

Beccs: „Das BFSG gilt für Dienstleistungserbringer, ÖPV, Hersteller, Händler, Importeure von Produkten, Vereine, Unternehmen, Selbstständige im digitalen Raum. Offline-Geschäfte sind nicht betroffen.“

#4 Gilt das BFSG für alle Vereine?

Beccs: „Ja, das BFSG gilt grundsätzlich für alle Vereine, aber nur, wenn kostenpflichtige Leistungen oder Funktionen angeboten werden.“

#5 Wer fällt nicht unter das BFSG?

Beccs: „Kleinstunternehmen und Vereine mit weniger als 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von unter 2 Millionen sind vom BFSG ausgenommen. Dabei zählen Vollzeitbeschäftigte als ganze Einheit, Teilzeitbeschäftigte anteilig und ehrenamtliche Mitarbeitende überhaupt nicht.  Websites ohne kostenpflichtige Dienstleistungen oder Angebote sind vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nicht betroffen.“

Mann mit Pferdeschwanz, 3-Tage-Bart und hellem Hemd

BFSG und sprachliche Inklusion

#6 Gibt es im BFSG eine Pflicht zu Leichter Sprache?

Marc: „Nein und das wäre auch gar nicht ohne weiteres möglich. So schützt beispielsweise das Urheberrecht Autor*innen davor, dass jemand ihre Texte verändert.

Allerdings ist Einfache Sprache das meistgewünschte Accessibility-‚Feature‘. Deshalb sollte man aus eigenem Interesse bemüht sein, so zu schreiben, dass eine größtmögliche Gruppe die Texte auf der eigenen Website versteht. Was für einen massiven wirtschaftlichen Impact das hat, wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Tageszeitungen die höchsten Auflagen haben.

Aus ökonomischer Sicht ist es ein großer Fehler, unnötig kompliziert zu schreiben.

Zu Leichter Sprache sind lediglich öffentliche Stellen verpflichtet. Diese müssen kurz über das Thema der Website, die Navigation und den wichtigsten Informationen in der Barrierefreiheitserklärung unterrichten. Allerdings gilt für öffentliche Stellen eine andere Rechtsgrundlage, nämlich das Behindertengleichstellungsgesetz beziehungsweise die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0).“

#7 Schreibt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz Einfache Sprache vor?

Marc: „Das BFSG verpflichtet Hersteller von Produkten in §7 Absatz 4 zu Folgendem: ‚Alle Kennzeichnungen, die Gebrauchsanleitung und die Sicherheitsinformationen müssen nach den Anforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung klar, verständlich und deutlich sein.‘

Das betrifft aber keine Dienstleistungen, die zum Beispiel auf Webseiten angeboten werden. Einige Webseiten (vor allem solche, auf denen gleich kostenpflichtige Hilfe angeboten wird), suggerieren dennoch, dass eine solche Pflicht besteht.

Aufgeführt wird hier gerne die ‚WCAG-Richtlinie 3.1 Lesbar: Mache Textinhalte lesbar und verständlich‘. Allerdings haben es nur korrekte Sprachangaben (also dass es sich um einen deutschen oder anderssprachigen Text handelt) in die rechtlichen Vorgaben geschafft.

Alle anderen Erfolgskriterien der WCAG zu Sprache spielen juristisch keine Rolle. Es handelt sich um AAA-Kriterien. Verpflichtend sind aber nur A- und AA-Kriterien. Die Einhaltung der AAA-Kriterien ist zwar empfehlenswert, aber aus den oben genannten Gründen zum Urheberrecht oder anderen Vorgaben nicht immer möglich.“

#8 Gibt es im BFSG eine Verpflichtung zu Deutscher Gebärdensprache (DGS)?

Beccs: „Es gibt keine konkreten Aussagen zu DGS im BFSG. In der BITV 2.0 (älter als das BFSG) gibt es Regelungen zu DGS. Es braucht in DGS und Leichter Sprache Informationen zu wesentlichen Hinweisen der Website, Hinweise zur Navigation, Informationen zum wesentlichen Inhalt der Erklärung zur Barrierefreiheit, Hinweise auf weitere vorhandene Informationen in DGS und Leichter Sprache. Die BITV gilt für öffentliche Stellen des Bundes. Die BITV gilt nicht für Privatpersonen und Unternehmen.“

#9 Braucht jede Website eine Erklärung zur Barrierefreiheit?

Marc: „Man braucht keine Erklärung zur Barrierefreiheit. Insbesondere sollte man aufgrund der wettbewerbsrechtlichen Risiken Mängel nicht offenlegen, für die man verklagt werden kann.

Dennoch enthält das BFSG durchaus Dokumentationspflichten. Wer Dienstleistungen anbietet, die unter das BFSG fallen, sollte hier Maßnahmen beschreiben, die er durchgeführt hat, um Barrierefreiheit zu erreichen.

In Paragraf 14 des BFSG werden auch Auskunftspflichten gegenüber der Marktüberwachung genannt. Nachdem Barrierefreiheit nach Paragraf 3 Absatz 2 als Bedingung für die Bereitstellung einer Dienstleistung genannt wird, heißt es weiter, dass Nichtkonformität der Marktüberwachung in Deutschland und allen anderen EU-Staaten gemeldet werden muss.

Außerdem hat der der Dienstleistungserbringer der Marktüberwachungsbehörde auf deren begründetes Verlangen alle Auskünfte zu erteilen, die erforderlich sind, um die Konformität der Dienstleistung nach Absatz 1 nachzuweisen.

Es gibt also durchaus Dokumentationspflichten. Nachweise für Angaben sind zu erstellen und aufzubewahren.“

Andrea: „Ich habe Beccs so verstanden, dass es eine Erklärung zur Barrierefreiheit braucht …“

Marc: „Ja, es gibt schon so eine Pflicht. Aber den Begriff ‚Erklärung zur Barrierefreiheit‘ gibt es nur in der BITV. Deshalb wollte ich ihn nicht verwenden. In der BITV wird auch wesentlich genauer erklärt, was in den Text hineingehört und wie oft er aktualisiert werden muss. Die BITV weist ferner darauf hin, dass die Erklärung aufgrund einer tatsächlichen Bewertung erstellt werden muss – und nicht aus irgendeinem Gefühl heraus. Die Bewertung, zum Beispiel ein Prüfbericht oder ein Gutachten, muss nicht angehängt werden. Man darf sie jedoch hinzufügen.“

#10 Schreibt das BFSG für alle Grafiken und Bilder ALT-Texte vor?

Beccs: „Das BFSG schreibt nur Ergebnisse vor. Die Umsetzung hängt von den Standards ab, zum Beispiel von DIN-Normen. Prinzipiell gilt das Zwei-Sinne-Prinzip, was durch Alt-Texte umgesetzt werden kann. Der Standardanforderungskatalog befindet sich online.“

#11 Was gilt als Sinneskanal?

Beccs: „Sehen, Hören, Tasten. Eine Website sollte durch eine Tabulator-Taste bedienbar sein und per Tastatur. Für die einzelnen Sinneskanäle gelten Regelungen, die besagen, wann eine Website ‚zugänglich‘ ist. Kontraste sind zum Beispiel wichtig.“

#12 Reicht es, auf einer Website ein Overlay einzubauen?

Marc: „Nein, meines Wissens nach gibt es kein Overlay, das in der Lage ist, Gesetzeskonformität herzustellen. Das gelingt noch nicht einmal in Amerika, wo ‚nur‘ die WCAG eingehalten werden muss. Dort musste der vermutliche Weltmarktführer accessible sogar eine Millionenstrafe zahlen, wegen zu weit gehenden Versprechen.

Sehr häufig haben Overlays eigene Barrieren, die eine ansonsten vollständig barrierefreie Website nicht konform machen können. Denn auch diese Tools müssen von allen Menschen nutzbar sein, wenn sie angeboten werden.

Auf https://overlayfactsheet.com/de/, das ich zusammen mit Beatriz González Mellídez auf Deutsch übersetzt habe, gibt es zahlreiche verzweifelte und wütende Stimmen von Menschen mit Behinderungen. Sie berichten von frustrierenden Erfahrungen mit solchen Tools.

In Expertenkreisen gelten solche Tools als unseriös. So haben etwa 1.000 Experten und Institutionen das Overlay Fact Sheet unterschrieben. Es gibt Stellungnahmen von Betroffenenverbänden, wie dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, Prüfverbunden, wie BIK-BITV, der europäischen Kommission, der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit und so fort, die alle diese Aussage stützen: Ein Overlay garantiert Barrierefreiheit nicht.

Eine besonders ausführliche Begründung liefert Daniela Kubesch in ihrer wissenschaftlich recherchierten Master Thesis, die sie zum Beispiel bei technica11y vorgestellt hat.“

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und Verstöße

#13 Wo kann man sich beschweren, wenn das BFSG nicht eingehalten wird?

Marc: „Bei der zuständigen Marktüberwachungsbehörde. Diese muss vom Anbieter der Website angegeben werden. Darüber hinaus können gegebenenfalls für Wettbewerber auch juristische Mittel in Frage kommen, die man dann natürlich über einen Anwalt seines Vertrauens erledigt.“

#14 Was droht bei Verstößen gegen das BFSG? Wer ist haftbar?

Marc: „Zu den drohenden Konsequenzen zitiere ich immer gerne die IHK München:

‚Mitbewerber [können] im Wege der wettbewerbsrechtlichen Abmahnung gegen Verstöße vorgehen. In diesem Falle droht Unterlassung und Schadensersatz.

Werden die Erfordernisse der Barrierefreiheit nicht erfüllt, kann die Marktüberwachungsbehörde anordnen, das betroffene Produkt oder die Dienstleistung zurückzurufen bzw. einzustellen. Darüber hinaus drohen Bußgelder von bis zu 100.0000 Euro.‘

Was die Haftung angeht, ist immer der Seitenbetreiber verantwortlich. Wenn er die technische Erstellung einer Dienstleistung an einen Auftragnehmer wie eine Webagentur vergibt, kann er vertragsrechtlich natürlich Dinge regeln, zum Beispiel, dass der Auftragnehmer die gesetzliche Konformität sicherstellen muss. Wie man das so rechtssicher ausgestalten will, dass der Auftragnehmer für Schadensersatz oder ähnliches haftet, wenn er den Vertrag nicht (vollständig) erfüllt, sollte man sich anwaltlich beraten lassen.“

Du möchtest mehr wissen? Checklisten zur Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit findest du hier.



Frau mit schulterlangen blonden Haaren und grauen Strähnen, blauen Augen, Brille und grauem Mantel

Andrea Halbritter

Andrea Halbritter ist Germanistin mit 2. Staatsexamen und vom Netzwerk Leichte Sprache e. V. zertifiziert. Sie erstellt Texte in Leichter und Einfacher Sprache für NS-Gedenkstätten, Museen, politische Parteien und Gesundheitsbehörden. In den Sprachrichtungen Französisch-Deutsch und Englisch-Deutsch übersetzt Andrea vor allem im Bereich Wein.

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