Erst kürzlich las ich auf einem Blog: “Du kannst […] eine*n Dienstleister*in damit beauftragen, deine Texte in Leichte Sprache zu übersetzen. Alternativ bietet es sich an, ein Glossar zu erstellen.” Kann ein Glossar wirklich Leichte Sprache ersetzen?
Nein! Und zwar auch dann nicht, wenn Erklärungen mit dem Plugin Glossary als Sprechblase eingeblendet werden. Warum erfährst du in diesem Beitrag.
9 Gründe, aus denen ein Glossar Leichte Sprache nicht ersetzen kann
#1 Leichte Sprache richtet sich an Menschen mit einer geistigen Behinderung
Leichte Sprache richtet sich vor allem an Menschen mit einer geistigen Behinderung. Diese benötigen eine stark vereinfachte Sprachform des Deutschen, für die verschiedene Regelwerke existieren. Das bekannteste davon wurde vom Netzwerk Leichte Sprache e. V. entwickelt. Alle diese Regelwerke tragen der Tatsache Rechnung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung sowohl über ein reduziertes Sprachvermögen als auch über eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten verfügen, die es ihnen nicht unbedingt erlauben, bestimmte Zusammenhänge zu verstehen.
Einen standarddeutschen – ja vielleicht sogar sehr schwierigen Text – mittels eines Glossars, das vereinzelte Begrifflichkeiten erklärt, barrierefrei oder zumindest barrierearm machen zu wollen, kann für Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht funktionieren.
Für Personen, die lediglich über reduzierte Deutschkenntnisse verfügen, weil Deutsch zum Beispiel nicht ihre Muttersprache ist und sich ihre Deutschkenntnisse “nur” auf einem Niveau B2 bewegen, dagegen schon. Ebenso auch für Jugendliche oder für Menschen, die sich nur in einem bestimmten Fachgebiet nicht auskennen und die mit der Erläuterung von ein paar Fachbegriffen den Gesamttext verstehen.
Genauso kann man ein Glossar natürlich auch in Einfache-Sprache-Texte einbauen, wenn sich bestimmte Termini auf einer Website regelmäßig wiederholen. Sogar in Leichte-Sprache-Texten kann dies eine Möglichkeit sein. Der Unterschied zum Tipp der Bloggerin, von der ich anfangs sprach, ist, dass das Glossar in dem Fall Begriffe erklärt, die sich in einem Leichte-Sprache-Text befinden. Die Bloggerkollegin dagegen riet dazu, standarddeutsche Texte mittels Glossar für Menschen mit einer geistigen Behinderung verständlich zu machen, was nicht möglich ist.
Warum zeige ich dir mit den folgenden Punkten:
#2 Bestimmte Strukturen werden von der Hauptzielgruppe Leichter Sprache nicht verstanden
Zugegeben: Einen Standardtext mittels ein paar Sprechblasen zum Leichte-Sprache-Text werden zu lassen, wäre praktisch … Barrierefreie Texte verzichten aber nicht nur auf unbekannte Begriffe, sondern vermeiden auch bestimmte Strukturen.
Das heißt: Gewisse Strukturen, wie Nebensätze, Genitiv oder Passiv, die in standarddeutschen Texten regelmäßig vorkommen, haben in Leichter Sprache nichts zu suchen. Von Menschen mit einer geistigen Behinderung werden sie nämlich in der Regel nicht verstanden.
Solltest du diesen Punkt vertiefen wollen, findest du mehr Infos in meinen folgenden Blogartikeln:
5 Strukturen, die in Leichter Sprache nichts verloren haben
Leichte Sprache: Schmeißt endlich das Passiv raus!
Wie du in Leichter Sprache kausale Zusammenhänge verdeutlichen kannst
Leichte Sprache: So löst du Konditionalsätze auf
#3 Leichte Sprache verwendet nur leichte Wörter
Leichte Sprache verwendet ausschließlich leichte Wörter. Es ist also auch vom Vokabular her nicht damit getan, sich ein paar Begrifflichkeiten aus einem standarddeutschen Text herauszugreifen und diese mittels Glossary oder anderweitig durch ein Glossar zu erklären.
Nehmen wir mal an, wir schreiben zum Beispiel einen Text über Katzen:
Die Hauskatze zählt zu den beliebtesten Haustieren. Die Merkmale der Hauskatze schwanken je nach Verbreitungsgebiet. Hauskatzen haben im Durchschnitt eine Kopf-Rumpf-Länge von 50 cm und eine Schwanzlänge von ca. 25 cm. Die bisher schwerste Hauskatze war ein stark adipöser Kater aus Australien. Er brachte 21,2 kg auf die Waage.
Wer sich mit Leichter Sprache nicht auskennt, wird jetzt wohl davon ausgehen, dass es mittels eines Glossars reichen würde, den Begriff “adipös” zu erklären.
Weit gefehlt! Auch die Begriffe “Hauskatze”, “Verbreitungsgebiet”, “schwanken”, “Schwanzlänge” und alle anderen oben bunt markierten Begriffe sind für Menschen mit einer geistigen Behinderung sogenannte schwere Wörter. Je nach Person kommen vielleicht sogar noch andere dazu. So kann durchaus sein, dass “Australien” und “Merkmal” nicht allen bekannt sind.
Brauche ich dir da noch erläutern, dass Sprechblasen hier für mehr Verständlichkeit sorgen? Will man alle schweren Wörter erklären, müsste man den Text mit Sprechblasen übersäen, wodurch er aber dann ob der Summe an Glossareinträgen nicht barrierefreier wird …
Mehr über leichte Wörter erfährst du in meinem Artikel: Wie erkennt man leichte Wörter?
#4 Leichte Sprache benötigt leichte Bilder
Um einen Text zu verstehen, brauchen Menschen mit einer geistigen Behinderung sogenannte leichte Bilder, die das Textverständnis unterstützen. Auch leichte Bilder unterliegen bestimmten Regeln. Während Bilder in standarddeutschen Texten häufig nur “Dekozwecken” dienen, müssen leichte Bilder (Illustrationen oder Fotos) Inhalte wiederholen.
Viele Zeichnungen bzw. Fotos, die Texte in “schwerem Deutsch” begleiten, sind keine leichten Bilder.
Mehr über leichte Bilder für Leichte Sprache kannst du in folgenden Artikeln nachlesen:
Was du über Bilder in Leichter Sprache wissen solltest
Barrierefreie Texte mit Wow-Effekt durch leichte Bilder (Interview)
#5 Zusammenhänge müssen in Leichter Sprache explizit erklärt werden
Solltest du schon etwas auf meinem Blog gestöbert bzw. dir den Artikel unter Punkt 2 zu Kausalsätzen durchgelesen haben, ist dir vermutlich aufgefallen, dass Sinnzusammenhänge für Menschen mit einer geistigen Behinderung viel kleinschrittiger erklärt werden müssen. Was uns logisch erscheint, ist für Menschen mit kognitiven Einschränkungen ohne weitere Erklärungen häufig nicht nachvollziehbar.
Wie Sachverhalte miteinander zusammenhängen, muss in Leichter Sprache daher viel genauer erläutert werden als in standarddeutschen Texten.
#6 Barrierefreiheit benötigt zusätzliche Infos
Insgesamt benötigen Menschen mit einer geistigen Behinderung viel mehr Infos. Das heißt: Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, muss erwähnt werden. Um auf den Text in Punkt 3 zurückzukommen: Was ist Australien? Wo liegt Australien?
So man denn Australien hier überhaupt erwähnen will. Für die Hauptaussage des Satzes, nämlich, dass der Kater sehr dick war, ist eigentlich unerheblich, wo dieser Kater lebt.
#7 Häufig muss Leichte Sprache reduzieren
Häufig muss Leichte Sprache also reduzieren, eine Auswahl treffen: Was ist wirklich wichtig? Was kann weggelassen werden, um das Textvolumen zu reduzieren und Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht durch einen zu langen Text zu überfordern?
Glossare treffen auch eine Auswahl. Mit einem Glossar entscheidet man als Texter oder Redakteur, welches Wort man erklären will und welches nicht. Gekürzt werden Texte, die in ihrer Länge vielleicht überfordern, durch ein Glossar aber nicht. Wieder ein Minuspunkt für die Sprechblase …
#8 Leichte Sprache ist ein inklusives Projekt
Damit sichergestellt wird, dass Leichte-Sprache-Texte barrierefrei sind, ist Leichte Sprache ein inklusives Projekt. Das heißt: Leichte-Sprache-Texter*innen bzw. Leichte-Sprache-Übersetzer*innen erstellen ihre Artikel, Flyer, Reportagen, Texte für Websites … gemeinsam mit Menschen mit einer geistigen Behinderung.
#9 Ein Glossar allein sorgt nicht für Barrierefreiheit
Du siehst: Ein Glossar allein sorgt nicht für Barrierefreiheit und macht aus einem “schweren Text” bzw. einem standarddeutschen Text keinen Leichte-Sprache-Text, der von Menschen mit einer geistigen Behinderung verstanden werden kann.
Erläutern könnte ich dir dies noch an zahlreichen anderen Punkten, wie der Verwendung von Abkürzungen, Flattersatz, schwer lesbarer Schrift usw.
“Du kannst […] eine*n Dienstleister*in damit beauftragen, deine Texte in Leichte Sprache zu übersetzen. Alternativ bietet es sich an, ein Glossar zu erstellen.” Also nein: Ein Glossar ist keine Alternative!