Während meiner Ausbildung zur Museumspädagogin hatte ich immer wieder Gelegenheit, mich mit Ausstellungsmacher*innen, Kunstvermittler*innen, Kurator*innen und Leitungen von Erinnerungsorten über sprachliche Inklusion zu unterhalten. Festgestellt habe ich dabei, dass die Ansichten zu sprachlicher Barrierefreiheit an Museen und Gedenkstätten nicht unterschiedlicher sein könnten.
Wie viel Leichte Sprache brauchen Erinnerungsorte und Museen?
Extrempositionen zu sprachlicher Inklusion an Museen und Erinnerungsorten
Wenn es um sprachliche Inklusion geht, treffen „Extrempositionen“ aufeinander.
Gruppe 1 ist der Meinung, sprachliche Inklusion sei im musealen Bereich bereits dann gegeben, wenn es pro Stadt in einem Museum ein Angebot in Leichter Sprache gebe: Führungen, Broschüren, Workshops oder einen Audioguide in LS.
Bei Gruppe 2 kommt zusätzlich zu einem Angebot pro Stadt noch ein Angebot in Deutscher Gebärdensprache (DGS) hinzu. Inklusion sei, wenn es für Menschen, die Leichte Sprache benötigen oder deren Muttersprache DGS ist, ein Angebot in der Stadt oder Gemeinde gebe.
Gruppe 3 vertritt die Ansicht, dass sämtliche Ausstellungstexte eines Museums, Erinnerungsorts oder einer Gedenkstätte in Leichter Sprache vorhanden sein müssten. Nur dann sei wirkliche Teilhabe möglich.
Gruppe 4 sieht sich in der Pflicht, hat auf Inklusion aber eigentlich keine Lust.
Gruppe 5 hat sich intensiv mit baulicher und sprachlicher Barrierefreiheit auseinandergesetzt, möchte eine Vorreiterrolle einnehmen und wirkliche Teilhabe bieten.
Wie wirken sich die einzelnen Positionen auf das Angebot in Museen und Gedenkstätten aus?
Gruppe 1 verlässt sich darauf, dass eine andere Einrichtung Leichte Sprache anbietet. Deutsche Gebärdensprache hat man gar nicht auf dem Schirm.
Gruppe 2 tickt ähnlich wie Gruppe 1, hat aber erkannt, dass es auch Angebote in Deutscher Gebärdensprache geben sollte. Entschließt man sich zu einem eigenen Angebot, wird es meist in Leichter Sprache angeboten, weil DGS teurer und schwerer umzusetzen ist.
Gruppe 3 ist perfektionistisch veranlagt, möchte es besonders gut machen und lässt Leichte-Sprache-Broschüren anfertigen, die 150 und mehr Seiten umfassen und in denen wirklich jedes, aber auch jedes Ausstellungsstück aufgeführt und in Leichter Sprache erklärt wird. Für das Leichte-Sprache-Angebot werden Unsummen an Geld in eine Eins-zu-eins-Humanübersetzung gesteckt (meist nach einer Ausschreibung, die der billigste Anbieter gewinnt) oder eine KI bemüht, mit der alles möglichst schnell übersetzt werden soll. Häufig ohne qualifizierte Nachbereitung beziehungsweise Post-Editing.
Gruppe 4 hat sich die UN-Behindertenrechtskonvention angeschaut (oder schon einmal etwas davon gehört) und entschließt sich zu einem Minimalangebot. Auf der Website befinden sich in etwa folgende Infos in Leichter Sprache: Wo befindet sich das Museum/die Gedenkstätte? Wie kommen Besucher*innen hin? Um was für ein Thema geht’s in der Ausstellung? Sind die Örtlichkeiten auch für Rollifahrer*innen zugänglich? Was kostet der Eintritt? Wann hat das Museum/der Erinnerungsort/die Gedenkstätte geöffnet? Allenfalls kommt eine Führung dazu, die in Leichter Sprache für Gruppen gebucht werden kann, so man sich im Netz auf dieses Angebot verirrt. In der Realität wird sie kaum gebucht, weil sich keiner verirrt und das Angebot auch nicht entsprechend beworben wird.
Gruppe 5 lässt sich von mehreren externen Expert*innen beraten, die sich mit unterschiedlichen Behinderungen auskennen, oder hat diese sogar fest im Team. Innovative, beispielhafte Konzepte entstehen. Dazu weiter unten mehr.
Was ist im Hinblick auf sprachliche Inklusion sinnvoll?
Gruppe 1 und 2 liegen aus meiner Sicht völlig daneben, wenn sie meinen, dass Inklusion bereits dann gegeben sei, wenn es in jeder Stadt ein sehr begrenztes Angebot in Leichter Sprache oder DGS gibt. Inklusion bedeutet, dass Menschen mit einer Behinderung selbstständig am sozialen, wirtschaftlichen, politischen oder eben kulturellen Leben teilhaben können. Hat in Stadt xy nur Museum xz ein Angebot in Leichter Sprache, nicht aber die anderen fünf ebenfalls vorhandenen Museen oder Erinnerungsorte, ist dies keine Inklusion. Als inklusiv kann sich allenfalls Museum xz bezeichnen, wenn die Umsetzung dort wirklich gelungen ist. Mal ehrlich, möchtest du in einer Stadt immer dasselbe Museum besuchen müssen, weil du in alle anderen nicht reinkommst oder die Texte nur auf Chinesisch geschrieben sind?
Die Minimallösung von Gruppe 4 bringt kaum etwas, wenn vor Ort nur Informationen (Ausstellungstexte, Audioguides, Führungen …) in Standarddeutsch vorhanden sind und es überhaupt kein Angebot in Leichter Sprache oder zumindest Leichter Sprache Plus gibt. Sie hat quasi eine Alibifunktion, Motto „Wir haben was getan“. Ja, aber eben nicht genug. Mich erinnert diese Lösung an Unternehmen, die auf ihrer Website eine einzige Seite in Leichter Sprache einbauen, auf der dann in Leichter Sprache erklärt wird, wo sich was in schwer verständlichem Deutsch befindet. Kann man sich eigentlich gleich sparen …
Gruppe 3 hält ein großes Angebot bereit. Trägt dieses Angebot aber wirklich zu sprachlicher Inklusion bei? Nein! Drücke ich einem Gast mit einer geistigen Behinderung bei Besuch meiner Ausstellung eine 50-, 100- oder gar 180-Seiten-Broschüre beziehungsweise -Büchlein in die Hand, tritt Überforderung ein. Was, das soll ich alles lesen? Auch Besucher*innen ohne Einschränkungen kämen mit solchen Pamphleten kaum zurecht. Wo finde ich, was mich interessiert? Wo sind die Texte zu dem Ausstellungsstück, vor dem ich gerade stehe? In welchem Raum befinde ich mich und welche Seite in diesem Blätterwust informiert darüber? Die meisten Besucher*innen mit Lernschwierigkeiten werden wohl gar nicht erst zu suchen anfangen.
Wie geht sprachliche Inklusion an Museen und Gedenkstätten?
Egal, was dir ein Behindertenbeauftragter erzählt (die wenigsten kennen sich im Bereich sprachliche Inklusion aus): Barrierefreiheit im sprachlichen Bereich bedeutet nicht, dass du für sämtliche Inhalte deiner Ausstellungstexte, Audioguides in schwerer Sprache … eine Leichte-Sprache-Übersetzung bietest. Inklusion heißt vielmehr, dass du eine sinnvolle Auswahl triffst, die die jeweilige Zielgruppe auch volumenmäßig nicht überfordert. In einem Kunstmuseum kannst du zum Beispiel pro Raum zu zwei oder drei ausgewählten Gemälden Infos in Leichter Sprache bieten. Und apropos Deutsche Gebärdensprache: Leichte Sprache kann für Menschen mit einer prälingualen Hörbehinderung eine Hilfe sein, sie ersetzt jedoch keine Deutsche Gebärdensprache.
Gute Beispiele für sprachliche Inklusion an Museen und Erinnerungsorten
Ein gelungenes Beispiel für sprachliche Inklusion an einem Erinnerungsort ist die Halle 116 in Augsburg, ein ehemaliges Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Bei der Erstellung von Konzept und Texten war ich in den Jahren 2022 und 2023 miteingebunden. Die wichtigsten Inhalte der Ausstellungstexte sind in Leichter Sprache Plus (auch stark vereinfachte Einfache Sprache genannt) zusammengefasst. Diese kurzen Zusammenfassungen befinden sich neben den ausführlicheren, schwereren Texten und werden mit der „Überschrift“ „einfach erklärt“ gekennzeichnet. Für eine bessere Lesbarkeit ist der Zeilenabstand in Leichter Sprache Plus größer. Für sämtliche Texte wurde eine gut lesbare Schriftart (Calibri) gewählt. Vom Vereinfachungsgrad her sind die Texte so verfasst, dass sie auch Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung verstehen können. Vorrangig richten sie sich aber an Personen mit geringeren Deutschkenntnissen oder Jugendliche, die es gerne kurz und knackig wollen. Gleichzeitig gibt es eine Leichte-Sprache-Broschüre, die Besucher*innen mit Lernschwierigkeiten die Geschichte der Halle in 10 kleinen, bebilderten Seiten näherbringt. Unterteilt ist sie in mehrere kurze Abschnitte:
Wie alt ist die Halle 116?
Was war in der Halle 116?
Das Konzentrations-Lager in der Halle 116
Wer war in Konzentrations-Lagern eingesperrt?
Warum gab es in Augsburg Konzentrations-Lager?
Wie war das Leben im Konzentrations-Lager?
Die Befreiung
Die Halle 116 heute
Für eine temporäre Ausstellung im Bereich Erinnerungskultur in Berlin habe ich vor ein paar Jahren mehrere Leichte-Sprache-Broschüren à vier bis sechs Seiten erarbeitet, zum Beispiel zu bestimmten Personen, die in der Ausstellung eine Rolle spielen. Wer eine höhere Aufmerksamkeitsspanne hat, kann sich mehr als eine Broschüre vornehmen. Wer Broschüre Nummer 1 spannend fand, dann aber nach Hause oder ins Museumscafé möchte, kann wiederkommen und beim nächsten Mal mit Leichte-Sprache-Broschüre Nummer 2 durchs Museum gehen.
Wer einen Audioguide in Leichter Sprache anbieten möchte, kann genauso vorgehen. Eine Leichte-Sprache-Tour für Menschen mit Lernschwierigkeiten sollte zwischen 20 und maximal 35 Minuten dauern, also wesentlich kürzer sein als für andere Besucher*innen. Eine „normale“ Tour kann gern in zwei oder drei Leichte-Sprache-Touren aufgesplittet werden.
Am besten gelingt Inklusion, wenn behinderte Menschen im Museum nicht nur Gast sind, sondern Akteure. An der Gedenkstätte Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg an der Havel führen Guides mit Lernschwierigkeiten in Leichter Sprache durch den Erinnerungsort. Sie waren auch an der Erstellung der barrierearmen Website Geschichte inklusiv beteiligt, deren Texte in Leichter Sprache Plus ich lektorieren durfte.
Ein weiteres Positivbeispiel für Leichte Sprache an Museen ist das Historische Museum Frankfurt. Es wartet mit einer Website in Leichter Sprache sowie mit einem von Werkstattbeschäftigten erstellten Multimediaguide durchs Museum auf. Auch das Deutsche Historische Museum in Berlin besitzt ein schönes Angebot in Leichter und Einfacher Sprache. Die Völklinger Hütte bietet Führungen in Deutscher Gebärdensprache, International Sign, einen Multimediaguide in Leichter Sprache und einen kurzen Leichte-Sprache-Text auf der Website.
Umfassende Angebote in Leichter Sprache und DGS sind in Museen, Lern- und Erinnerungsorten sowie Gedenkstätten leider immer noch die Ausnahme.
Ideen, wie du Leichte Sprache in dein Museum oder deine Gedenkstätte integrieren kannst, bekommst du in meinem Artikel 10 Möglichkeiten, Leichte Sprache in ein Museum zu integrieren. DGS lässt sich in Museen zum Beispiel gut über QR-Codes integrieren, durch die übers eigene Handy Gebärdensprachvideos abgerufen werden können.
Zeichnungen: Maxime Ferré, Deveau Graphisme (erstellt im Rahmen eines Leichte-Sprache-Projekts für die Staatlichen Archive Bayerns)