Erfahrene Übersetzer*innen sind sich einig: Sprachmittler*innen, die langfristig auf dem Übersetzungsmarkt bestehen wollen, dürfen keinen Bauchladen vor sich hertragen. Stattdessen müssen sie sich spezialisieren. Nur dies sichert genügend Kund*innen, steigert die Produktivität und garantiert, dass Übersetzungen gut bezahlt werden. Wie aber findet man als Übersetzer*in zu seiner Spezialisierung und noch besser zu seinem lukrativen Nischenfachgebiet, in dem nur wenige Übersetzer*innen unterwegs sind?
Ich habe 6 Kolleg*innen befragt, die äußerst spitz aufgestellt sind. Und natürlich erfährst du auch, wie ich zu meinen Spezialgebieten gekommen bin.
7 Übersetzer*innen erzählen, wie sie ihr Spezialgebiet gefunden haben
#1 Die Lyrikübersetzerin
Als Übersetzerin über die Promotion zum Spezialgebiet
Eigentlich wollte ich ja schon immer Literatur übersetzen. Als dies nicht auf Anhieb klappte, habe ich aus Verzweiflung promoviert – und zwar über das Übersetzen. Über Nachdichtung, genauer gesagt; das Ergebnis hieß Brodsky Translating Brodsky: Poetry in Self-Translation und wurde 2012 von Bloomsbury veröffentlicht.
Und siehe da: Über die Promotion öffneten sich auch zwei erste Wege zum Übersetzen. Mein Buch ist eine literaturwissenschaftliche Monografie darüber, wie Gedichte übersetzt werden. Und bald schon übersetzte ich andere geisteswissenschaftliche Werke und Gedichte.
Und zwar ins Deutsche und Englische. (Dass ich mehrere Zielsprachen habe, ist zwar ungewöhnlich, aber meinem Lebenslauf verschuldet; es scheint zu funktionieren.)
Dabei kommen die Aufträge für diese beiden Gebiete auf sehr verschiedenen Wegen zu mir: Anfragen zum akademischen Übersetzen fast immer über Empfehlungen. Oft von Menschen, die ich noch in meiner Zeit als Doktorandin und Post-Doc auf Konferenzen & Co traf. Oder von Wissenschaftler*innen, für die ich bereits einen Artikel oder Essay übersetzt habe. Angefangen hat alles mit Literaturwissenschaft. Inzwischen sind auch andere Geisteswissenschaften und auch Soziologie dabei.
Übersetzungskunden im seltenen Spezialgebiet über Google
Anfragen für Lyrikübersetzungen kommen zwar manchmal auch von Universitäten (vor allem, wenn Poesie analysiert wird und dabei zitiert werden soll). Aber die meisten zu übersetzenden Gedichte finden mich einfach per Suchmaschine: Es gibt nicht so viele Menschen, die überhaupt Lyrik übertragen. Und inzwischen denkt sich Google öfters: „Okay, eine Nachdichtung! Das macht die Alex schon.“ Meistens handelt es sich um Selfpublishing oder Gedichte, die privat (zum Beispiel als Liebeserklärung oder Gratulation) verfasst wurden. Das heißt keinesfalls, dass ich diese Texte beim Übersetzen nicht ernst nehme. Auch in meiner Familie gratuliert man sich zu jedem Geburtstag in Versen. Solche Hobby-Gedichte strahlen für mich viel Wärme aus. Zudem macht es Spaß, sie in der Übersetzung behutsam technisch zu verfeinern.
#2 Die Bier-Übersetzerin
Wenn das Spezialgebiet die Übersetzerin findet …
Ich habe als Übersetzerin ein eher ausgefallenes Fachgebiet, zu dem ich eher zufällig gelangt bin. Eigentlich habe nicht ich das Fachgebiet gefunden, sondern das Fachgebiet mich. Einfach deshalb, weil ich am Beginn meines Berufslebens im Vertrieb eines namhaften Anlagenherstellers von Brauereianlagen angestellt war. Zu dem Zeitpunkt wusste ich von Bier nicht viel mehr, als dass ich es mochte. Das Internet war damals noch nicht in Unternehmen verbreitet, so dass die Terminologie-Recherche sich äußerst mühselig gestaltete, und ich auf Erklärungen der – nicht immer über meine Fragen begeisterten – Kollegen angewiesen war. Die Tatsache, dass die Brautechnik zu der Zeit noch eine sehr männerdominierte Welt war, machte die Sache auch nicht einfacher …
Als Übersetzerin schnell vom Spezialgebiet fasziniert
Doch das Thema fesselte mich schnell und fasziniert mich bis heute. Seit 2006 übersetze und dolmetsche ich freiberuflich. Es macht mir noch immer Spaß, mich in die vielen unterschiedlichen Facetten der Brautechnologie zu vertiefen. Denn das Bierbrauen – wie auch die Prozesstechnik generell – ist ein wahrhaft vielseitiges Thema, das zahlreiche (natur-)wissenschaftliche Aspekte in sich vereint: Nie hätte ich mir träumen lassen, dass Physik, Chemie oder Mikrobiologie so spannend sein können!
Deshalb erweitere ich mein Wissen über Brau- und Prozesstechnik ständig durch akribische Recherche (nicht nur) im Web, regelmäßige Besuche von Fachmessen und neugierige Gespräche mit meinen sorgfältig gepflegten Branchenkontakten.
Langweilig wird es Sabine beim Übersetzen nie
Und die Brautechnik hat auch jede Menge nicht minder interessante Nachbarfachgebiete, die ich mir nach und nach erschließe: Ernährung, erneuerbare Energien oder Energieoptimierung, um nur einige zu nennen. Jedes neue Übersetzungs- oder Dolmetschprojekt schenkt mir neues Wissen!
Was mich immer wieder schmunzeln lässt: Wenn ich in einem Gespräch mit Unbekannten sage, ich sei Übersetzerin, ist die Reaktion meist eher verhalten: „Ach ja, schön.“. Wenn ich aber mein Fachgebiet nenne, finden die Leute das sofort spannend: „Total cool!“ Und schon kommen Fragen zu Stammwürze, Craftbeer-Styles etc.
#3 Die übersetzende Bauingenieurin
Ein Studium, um zu beweisen, dass alles möglich ist
Nach mäßigen Erfolgen in den Fächern Mathe und Physik in meiner Schullaufbahn entschied ich mich nach dem Abitur zu einem Studiengang im Bereich Bauingenieurwesen, um mir selbst zu beweisen, dass alles möglich ist, wenn man nur will. Meine Liebe zu Sprachen wollte ich aber nicht aufgeben und begann so einen Studiengang an der Deutsch-französischen Hochschule, wo mein Interesse am Bauwesen stets wuchs.
Neue Themen, die beim Übersetzen automatisch dazukommen
Wie aus einfachen Materialien komplexe Bauwerke werden, fasziniert mich bis heute. In der Baubranche spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen: Stadt der kurzen Wege, ressourcenschonendes Bauen und Betrieb von Gebäuden, flächensparendes Wohnen und Leben, die Ausbildung von Maschinenführern in der Virtual Reality … Neue Themen, die mein Fachgebiet spannend bleiben lassen.
Meine in drei Ländern (Deutschland, Frankreich, Luxemburg) erworbenen Fachkenntnisse (sowie meinen Master im Konferenzdolmetschen) nutze ich für Übersetzungen von Artikeln in Architektur- und Baufachzeitschriften. Oder von Vertragsbedingungen, die Sicherstellung der Kommunikation internationaler Baukonzerne oder die Verdolmetschung von Kongressen und Schulungen. So verbinde ich heute die zwei Welten (Technik und Sprachen) und habe Spaß dabei.
#4 Spezialgebiete Wein und Nationalsozialismus
Als Übersetzerin mit Social Media zum Spezialgebiet
Zum Fachgebiet Wein bin ich durch Zufall gekommen. Nach meiner Auswanderung nach Frankreich habe ich mir ein Viadeo-Profil erstellt. Dieses wurde irgendwann von einer auf Wein spezialisierten Übersetzungsagentur entdeckt, die noch eine freiberuflich tätige Übersetzerin für die Sprachrichtung Französisch-Deutsch suchte. Unsere Zusammenarbeit begann zunächst mit der Übersetzung von Weinverkostungsnotizen. Im Laufe der Zeit kamen alle möglichen Themen rund um Wein hinzu: Weinreisen, Weinbereitungsmethoden, Arbeit im Weinberg, Massenauslese, Weinkrankheiten, Rezepte, Fassbau, Verpackung …
Abwechslungsreich und sprachlich immer wieder eine Herausforderung
Die Kooperation mit der Agentur hält seit zehn Jahren an. Vor drei Jahren haben wir sie um die Sprachkombination Englisch-Deutsch erweitert. Zusätzlich arbeite ich als Übersetzerin im Weinbereich inzwischen für viele Direktkund*innen in Frankreich, Spanien, Australien und den USA. Darunter auch einige der renommiertesten Champagnerhäuser. Was ich am Spezialgebiet Wein mag: Es ist abwechslungsreich, sprachlich eine Herausforderung. Insbesondere die Weinbereitung finde ich sehr interessant. Für spezialisierte Übersetzer*innen sind gute Preise zu erzielen.
Durch die eigene Familiengeschichte als Übersetzerin zum Spezialgebiet
Mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasse ich mich aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte seit etwa 2017 sehr intensiv. Meine Großeltern waren im Widerstand. Gelesen habe ich eine Unmenge an Büchern zum Nationalsozialismus – sowohl Standardwerke als auch neuere Studien. Und monatlich kommen mindestens zwei weitere dazu!
Zusätzlich bilde ich mich als Gasthörerin an verschiedenen Universitäten fort und nehme Bildungsangebote an NS-Gedenkstätten wahr. Tätig bin ich im Bereich der Erinnerungskultur auch ehrenamtlich: in der Lagergemeinschaft Dachau, dem Internationalen Dachau-Komitee, der VVN-BdA und der Stolpersteininitiative für Augsburg und Umgebung.
Kunden über Website, Empfehlungen und Ehrenamt
Meine Kund*innen muss ich in dem Bereich nicht suchen, sie finden mich von selbst: über meine Website, über Empfehlungen oder meine Ehrenämter. Inzwischen bin ich in meinem Spezialgebiet Nationalsozialismus so fit, dass ich inhaltliche Fehler im Ausgangstext finde oder Anregungen für Ergänzungen geben kann beziehungsweise schon bei der Ausstellungskonzeption mitarbeite.
#5 Die Übersetzerin mit dem Fachgebiet Onkologie
Ein nicht wirklich selbst ausgesuchtes Spezialgebiet als Übersetzerin
Meine Subspezialisierung hängt mit dem abgebrochenen Studium der Molekularbiologie und Physiologie zusammen. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, es ist mit der Zeit dazu gekommen. Obwohl ich im Bereich Pharma als Übersetzerin/Dolmetscherin angestellt war und nur Pharma machen wollte, hatten wir im Haus kaum solche Übersetzungsaufgaben. Vielmehr ging es um andere Gebiete, wie Finanzen, ja sogar Bauwesen, da mein damaliger Arbeitgeber zu jener Zeit eine neue Fabrik baute.
Als ich dann ein Übersetzungsbüro gründete, hatte ich im Bereich Pharma leider wenig zu tun. Manche Agenturen konnten sich nicht einmal merken, in welchen Bereichen ich gerne übersetze und gut arbeite. Immer wieder musste ich Übersetzungsprojekte ablehnen, die nicht mein Ding waren.
Helfersyndrom und Spezialgebiet beim Übersetzen
Auch privat fühlte ich mich nicht wirklich ausgefüllt und wusste nicht so recht wohin mit meinem Helfersyndrom. Den Bereich der Medizin hatte ich nicht im Blick, Onkologie schon gar nicht. Damals hat mich das überhaupt nicht interessiert. Aber dann entstand eine ehrenamtliche Übersetzergruppe für Medizin. Die Kosten von Auslandsbehandlungen sind bekanntlich sehr hoch und ein Verein wollte Patient*innen zumindest die Kosten für Übersetzungen ersparen. Und so begann ich ehrenamtlich im Bereich der Onkologie zu übersetzen. Mittlerweile kann ich mit diesem belastenden Fachgebiet auch sehr gut umgehen und ich mag es sogar. Inzwischen übersetze ich täglich bis zu 2400 Wörter im Bereich der Onkologie.
Das Spezialgebiet als Berufung
Es ist wichtig, dass man das macht, was man mag und gut kann. Im Beruf geht es um Berufung. Um ein erfülltes Leben zu haben, sollte man sich zu dem, was man macht, berufen fühlen – sowohl fürs Übersetzen als auch für seine Spezialisierung. Mein Rat: Wenn ihr etwas nicht machen könnt, tut viel Gutes mit viel Liebe! Dann wird es schon irgendwie kommen, denn Gottes Wege sind unergründlich.
#6 Nischengebiet Synthesizer
Übers Hobby zum Spezialgebiet als Übersetzer
„Damit kannst du wirklich jeden Klang nachbauen!“
Das war der Satz, der mich damals elektrisierte. Ausgesprochen hatte ihn ein Freund, der mir freudestrahlend seinen zur Ansicht ausgeliehenen Synthesizer präsentierte. Das war 1979, weswegen obige Behauptung zum damaligen Zeitpunkt wohl eher ins Reich der Fantasie zu verweisen war. Und doch: Die ersten Gehversuche mit den Knöpfen und Reglern dieses neuartigen Musikinstruments waren seinerzeit der Anfang meiner Leidenschaft für „künstliche“ Klänge und ihre Programmierung. Zudem war der Einstieg für mich niederschwellig, kannte ich das „Interface“ ja vom heimischen Klavier her.
Es dauerte dann auch nicht lange, bis der erste echte „Synthi“ ins Haus kam: ein kleines Einsteigermodell von Moog, das trotz limitierter Klangerzeugung – oder vielleicht gerade deswegen – immer wieder meinen kreativen Ehrgeiz zu wecken vermochte.
Weil ich mich damit jedoch in den Punkrockkapellen meines Umfelds weder musikalisch noch – in Ermangelung eines ausreichend dimensionierten Verstärkers – akustisch durchsetzen konnte, dauerte es noch ein paar Jahre bis zur ersten eigenen Band. Dann aber erwarb ich mir, nachdem ich bis dahin eher nach dem Trial-and-Error-Prinzip Klänge gebastelt hatte, mithilfe einschlägiger Fachbücher und -zeitschriften nun auch theoretische und praktische Kenntnisse zur Soundprogrammierung. Das gipfelte schließlich darin, dass ich zum Ende meines Übersetzerstudiums einen 303-Seiten-Wälzer mit dem Titel „Synthesizer: Technologie und Terminologie“ als Diplomarbeit vorlegte – sehr zum Entsetzen des zuständigen Korrektors.
Ein Spezialgebiet, das den Übersetzer begeistert, wirft nicht immer genug ab
Leider wirft die „Nische Synthesizer“, selbst wenn sie um Bereiche wie Computersoftware, Audioelektronik und Tonstudiotechnik erweitert wird, nicht genug ab, um allein davon leben zu können. Deshalb kommen heute 90 Prozent meiner Aufträge aus der IT im weitesten Sinne. Trotzdem nehme ich noch immer gerne Aufträge aus „meinem“ Spezialgebiet an und erledige sie mit Interesse und Begeisterung, denn noch weitaus stärker als in den Achtzigerjahren führen solche Projekte meine drei Leidenschaften zusammen: Sprachen, Computer und Musik.
#7 Der Übersetzer mit den Finanzseminaren
Durch eine zweite Berufsausbildung zum Spezialgebiet als Übersetzer
Nach dem Abschluss als staatlich geprüfter Übersetzer für Französisch und Spanisch am IFA in Erlangen startete ich keineswegs direkt in die Sprachenwelt. Stattdessen wollte ich mich mit einer zweiten Berufsausbildung für die spätere Tätigkeit als Fachübersetzer qualifizieren. Dass ich damals im Alter von 24 Jahren (!) noch eine Lehre anstrebte, veranlasste nicht wenige zum Schmunzeln. Doch ich wollte mich fundiert spezialisieren und entschied mich zwischen diversen Angeboten aus Industrie und Bank schließlich für letzteres.
Zwei Jahre Lehre, anschließend zwei Jahre Trainee mit Auslandsaufenthalt in der Pariser Filiale der Bank … und dann?
Wie es das Schicksal so wollte, war ich vom Finanzwesen so begeistert, dass ich in der Bank blieb – nicht als Übersetzer, sondern als „Banker“. Bei meiner Tätigkeit – im Corporate Banking und im Auslandsgeschäft – kamen mir meine Sprachkenntnisse nicht zuletzt bei der Betreuung von multinationalen Unternehmen und Korrespondenzbanken in Frankreich, Spanien, Portugal und Benelux zugute. Nebenbei hegte und pflegte ich meine Sprachkenntnisse sowohl mündlich als auch schriftlich durch zahlreiche Kontakte ins Ausland. Gleichermaßen vertiefte ich meine Terminologiearbeit, die ich schon während des Studiums begonnen hatte. (Damals noch mit einigen tausend Karteikarten, da es ja noch keine Termbase gab).
Kurse für Übersetzer*innen
Während rund 30 Jahren Finanzpraxis in Bank und Industrie, aber auch zwischendurch zehn Jahren Leitungsfunktionen bei großen Sprachendienstleistungsunternehmen in Basel/Zürich, Berlin und Luxemburg fand ich so ganz nebenbei zu meiner jetzt schon langjährigen freiberuflichen Tätigkeit: In Finanzseminaren, die ich für Freiberufler*innen und Angestellte aus der Sprachendienstleistungsbranche gebe, vermittle ich Fachwissen und Fachterminologie. Ebenso unterstütze ich Übersetzer*innen durch fachliche und fachsprachliche Qualitätssicherung von Finanztexten. Dabei bin ich glücklich, meine Begeisterung für das Finanzwesen mit der Leidenschaft für Sprachen zu kombinieren und hoffentlich auch an andere zu übertragen.
Diese Artikel könnten dich als Übersetzer*in auch interessieren:
Wie arbeiten sich Übersetzer*innen in neue Themenbereiche ein?