Buchtipp: Studie von Christopher Dillon über die SS im KZ Dachau
Dachau & the SS A Schooling in Violence ist eine der ersten Studien zur SS im KZ Dachau. Historiker Christopher Dillon beschäftigt sich darin mit der Dachauer Vorkriegs-SS und insbesondere mit der Frage, wie Menschen zu Tätern werden.
Gegliedert ist die Studie in sechs Kapitel:
Kapitel I: die Entstehung von SS und SA
In Kapitel I (‘We’ll Meet Again in Dachau’ The Early Dachau SS) zeigt Dillon, wie es zu einem “Dachauer Geist” kommt, der bald in andere Konzentrationslager “exportiert” wird: Innerhalb von zwei Monaten ermordet die SS zwölf Schutzhäftlinge, darunter den KPD-Stadtrat Leonhard Hausmann. Aus dem frühen Personal des KZ Dachau gehen mehrere spätere Lagerkommandanten hervor: Richard Baer (Auschwitz), Max Koegel (Ravensbrück, Madjanek, Flossenbürg), Martin Weiß (Neuengamme, Madjanek, Dachau). Hinzu kommen künftige Lagerführer.
Die frühe Dachau-SS zählt 264 Männer, wobei zu 192 noch Unterlagen vorhanden sind. Die meisten entstammen der SA (Sturmabteilung) aus dem südlichen Bayern. 75 kommen aus München, 60 aus Augsburg. (1936 wird ein Augsburger sogar Kommandant des KZ Dachau: Hans Loritz.) Dillon zeigt, dass der überwiegende Teil der unteren Mittelschicht angehört und bisher in Handwerk, Verkauf/Vertrieb oder Landwirtschaft tätig war. Das Durchschnittsalter der Männer beträgt 25,7 Jahre. Die meisten sind zwischen 1900 und 1910 geboren und haben nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen.
Dillon erläutert, was ihre Jugend prägt: politische Unruhen, immense Klassenunterschiede, ein als erniedrigend empfundener Friedensvertrag und regelmäßige Straßenkämpfe.
In Kapitel I erfährt der Leser, wie es zur Entstehung von Sturmabteilung (SA) und im April 1925 zur Schutzstaffel (SS) kommt. Der Autor stellt dabei heraus, dass es sich bei den Mitgliedern der ersten Jahre häufig um Männer mit Alkoholproblemen handelt, die regelmäßig straffällig geworden sind. Näher beschäftigt sich Dillon mit Wäckerle, Steinbrenner, Vogel, Strauss, Kantschuster, Ehmann und Wicklmayr.
Kapitel II: die Wachmannschaften des KZ Dachau
In Kapitel II (The Dachau Guard Troops) zeigt Dillon anhand von Eicke, wie einfach es anfangs war, in der SS aufzusteigen. Auffallend ist ferner, dass die Mitglieder der Totenkopfverbände immer jünger werden. So liegt ihr Durchschnittsalter im Dezember 1939 bei nur 20,7 Jahren.
Ab 1936 versucht man vor allem, in der Hitlerjugend und im Militär geeignete Kandidaten zu finden.
Dillon beschäftigt sich auch mit den Gründen, die junge Männer dazu veranlassten, SA oder SS beizutreten. Als einen der Hauptgründe in frühen Jahren nennt er die große Arbeitslosigkeit. Eine Aufnahme erfolgte grundsätzlich freiwillig, wobei der Wachdienst in einem Konzentrationslager erst ab 1938 finanziell wirklich interessant war. Verpflichten konnte man sich auf 4, 6 oder 12 Jahre. Wer sofort für 12 Jahre unterschrieb, bekam eine Garantie, danach in den Polizeidienst übernommen zu werden.
Die Motivation, sich für den Dienst in einem Konzentrationslager zu melden, war unterschiedlich: Kameradschaft und Militär, Unabhängigkeit von den Eltern, gute Aufstiegsmöglichkeiten, ein sicherer Job mit Verpflegung und Unterkunft …
Dillon zeigt, dass es bis Oktober 1939 problemlos möglich war, die SS zu verlassen und den Dienst im Konzentrationslager aufzukündigen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Insbesondere SS-Leute, die in der elterlichen Landwirtschaft gebraucht wurden, machten hiervon auch rege Gebrauch. Andere verstand die SS durch Verträge, Schwüre, nicht existierende fristlose Kündigungen und Führerprinzip psychologisch so zu binden, dass sie auch dann nicht kündigten, wenn sie den Dienst eigentlich nicht mehr versehen wollten.
Weiter erfährt der Leser in Kapitel II mehr über die Dachauer Schule, die Spannungen zwischen unterschiedlichen SS-Einheiten in Dachau und die alltägliche Gewalt im Lager. Aufgrund der engeren Verhältnisse im KZ Dachau waren Wachen dort mehr mit Gefangenen in Kontakt als in größeren Lagern, wie z. B. Buchenwald oder Auschwitz. Das Leben und Überleben von KZ-Häftlingen hing nicht unwesentlich von Laune und psychischer Verfassung ihrer Bewacher ab. Als Beispiel führt Dillon die Erschießung von zwei Gefangenen durch KZ-Aufseher Maximilian Seefried im Mai 1934 an.
Kapitel III: das Personal der Kommandantur
Kapitel III (The Dachau Commandant Staff) befasst sich mit Kommandantur, Kommandanten und Adjutanten, Politischer Abteilung, Schutzhaftlagerführern, Rapportführern und Blockführern. Deutlich wird hier insbesondere der große Handlungsspielraum, der im NS-Konzentrationslagersystem bestand.
Kapitel IV: SS und Gefangene
Kapitel IV (The Dachau SS and the Prisoners) untersucht die Beziehungen von SS und Schutzhäftlingen. Dillon verdeutlicht, dass Häftlinge jederzeit Strafen befürchten mussten. Sie wurden komplett entmenschlicht und als gefährliche, fanatische Feinde dargestellt. Schusswaffen waren beim geringsten Widerstand zu gebrauchen.
In den ersten Jahren kam es schon vor der Überstellung nach Dachau in Gefängnissen sowie auf dem Transport in das Lager zu Übergriffen durch SA und SS. “Glück” hatten lediglich die Schutzhäftlinge, die von der Polizei bewacht wurden. Die anderen waren schon vor ihrer Überstellung nach Dachau erheblich traumatisiert. Bei ihrer Ankunft im Lager kam es zu qualvollen Verhören, zur Beseitigung jeglicher Individualität durch Abrasieren der Haare, Häftlingskleidung usw. und ab Ende der 1930er-Jahre auch zu schmerzhaften Fototerminen.
Im Lager musste schwere körperliche Arbeit verrichtet werden. Diese diente die ersten Jahre fast ausschließlich dazu, Gefangene zu quälen. Andere Häftlinge mussten Arbeiten erledigen, die für das Lager nützlich waren, wie z. B. Kochen, Backen, Waschen. Besonders hart herangenommen wurden Neuankömmlinge oder Parteifunktionäre.
Dillon geht in dem Kapitel auch auf die weiteren Bedingungen, wie Verpflegung und Hunger, ein.
Klar wird, dass das Quälen von politischen Gegnern vor allem auch dazu diente, das Selbstwertgefühl der SS-Aufseher zu heben. Eingegangen wird auf die Unterteilung der Häftlinge durch Wäckerle in drei Häftlingsklassen. Von der Häftlingsklasse hing ab, wieviel Verpflegung ein Gefangener bekam und mit welcher Behandlung er zu rechnen hatte. Nicht klar ist jedoch, wie konsequent dies in der Praxis tatsächlich durchgehalten wurde. Die Klasse III entsprach wohl der Strafkompagnie. Häftlinge dieser Kategorie bekamen so wenig Kost, dass sie immer wieder Beeren, Insekten und Gras aßen.
Ein Abschnitt widmet sich Häftlingen, die zum zweiten Mal in Dachau waren. Daneben bekommt der Leser Informationen zu anderen Häftlingskategorien, wie Zeugen Jehovas, sog. “Asozialen” und Juden.
Kapitel V: Männerstaat
Kapitel V (‘Tolerance Means Weakness’: The Dachau SS and Masculinity) befasst sich mit der Männlichkeit im “Dritten Reich”, der SS als Männerbund mit bestimmten Vaterfiguren und dem Frauenbild der SS sowie den Heiratsregelungen für SS-Angehörige. Dillon zeigt, dass der NS-Staat es verstand, sogenannte männliche Werte und insbesondere Kameradschaft so einzusetzen, dass SS-Leute bedingungslos gehorchten. Diese nutzten ihre Position wiederum aus, indem sie Häftlinge erniedrigten, die das Alter ihrer Väter oder Großväter hatten. Vermittelt wurde dadurch ein Gefühl von Macht, das für anderes entschädigte.
Einen Blick wirft Dillon auch auf das Männerbild von Kommunisten und Sozialdemokraten sowie auf die Behandlung von Homosexuellen und Juden. Außerdem vergleicht er das Verhalten weiblicher KZ-Aufseherinnen zum Beispiel in Ravensbrück mit dem ihrer männlichen Kollegen.
Kapitel VI: Ort und Kontext
Im letzten Kapitel (The Dachau SS and The Locality) befasst sich der Historiker mit geografischer Lage und Gebäuden des Lagerkomplexes, der Ende der 1930er-Jahre wie eine Stadt in der Stadt wirkt. Betrachtet wird das Konzentrationslager Dachau auch in seinem institutionellen Kontext sowie der Machtgewinn Himmlers, der 1934 erreicht, die Konzentrationslager dem System der allgemeinen Rechtsprechung zu entziehen.
Meine Meinung zu diesem Buch über das KZ Dachau:
Eine sehr interessante Studie mit einer Fülle an Informationen über die frühe Dachau-SS, Lagerkommandanten, Adjutanten und anderes Personal. Ein Werk, das in seiner Art bisher einzigartig ist und zeigt, wie es das NS-Regime schafft, aus jungen Männern Sadisten zu machen, die politische Gegner quälen und töten. Beleuchtet werden dabei viele Faktoren: soziale Herkunft, psychologische Aspekte, politische Überzeugungen, Erlebnisse in der Jugend, Feindbilder … Zusätzlich erfährt der Leser sehr viel über die allerersten KZ-Aufseher, die meist schon vor ihrem Dienst in Dachau straffällig waren.
Leider wurde die Studie bisher nicht übersetzt. Sie steht daher nur auf Englisch zur Verfügung. Um sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen, ist ein Niveau C1 nötig.
Dillon, Christopher: Dachau & the SS A Schooling in Violence. Oxford 2015, ISBN 978-0-19-879452-3, 282 Seiten
Fotos: Andrea Halbritter, Wikimedia Commons
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