Insbesondere von Themen, wie NS-Krankenmorden und Zwangssterilisationen, sind Menschen mit einer geistigen Behinderung sehr berührt.
Nicht selten stellen sich Historiker*innen daher die Frage, ob es zumutbar ist, geistig behinderte Menschen mit Themen, wie „Euthanasie“, systematischer Vernachlässigung und Nahrungsentzug, zu konfrontieren.
Ich bin der Meinung ja! Leicht verständliche Informationen zu diesen Themenfeldern zu bieten ist sogar unabdingbar, eine barrierefreie Vermittlung von Inhalten unbedingt nötig.
Wenn du weiterliest, erfährst du, welche Gründe dafür sprechen, auch Menschen mit einer geistigen Behinderung an Erinnerungskultur teilhaben zu lassen. Außerdem verrate ich dir, wie dies möglich ist.
6 Gründe für eine Erinnerungskultur, die sich auch an Menschen mit einer geistigen Behinderung richtet
#1 Teilhabe muss in jedem Bereich möglich sein
Menschen mit einer geistigen Behinderung haben in jedem Bereich ein Recht auf Teilhabe. Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich zu sämtlichen Themen ihrer Wahl weiterzubilden: Politik, Geschichte, Gesundheit, Kunst, Erinnerungskultur …
Geistig behinderte Menschen äußern ihre Gefühle oft offener als Nicht-Behinderte. Dies ist gut so und kein Grund, Menschen mit Down Syndrom oder einer anderen geistigen Behinderung Geschichte (oder bestimmte Teile davon) vorzuenthalten.
#2 Nachrichten in “schwerer Sprache”
Menschen mit Lernschwierigkeiten erreichen dieselben Nachrichten wie Menschen ohne eine Behinderung. So sehen auch sie immer wieder Texte über den Nationalsozialismus – meist aber in „schwerer Sprache“. Texte auf Standarddeutsch sind für sie jedoch nicht verständlich.
#3 Großes Interesse, mehr zu erfahren
In den letzten Jahren zum Beispiel ist immer wieder die Rede von den letzten Zeitzeug*innen. Bei vielen Menschen mit einer geistigen Behinderung entsteht dadurch das Interesse, mehr zu erfahren – in einer für sie leicht verständlichen, barrierefreien Sprache.
#4 NS-Krankenmorde sind bekannt
Vielen Menschen mit einer geistigen Behinderung ist die Existenz der NS-Krankenmorde bekannt. Sie wissen, dass Menschen mit einer Behinderung zu den Opfergruppen des Nationalsozialismus zählten. Sie möchten daher mehr über die „Euthanasie“ erfahren und Geschichte barrierefrei vermittelt bekommen.
#5 Diskriminierungserfahrung ist vorhanden
Menschen mit Lernschwierigkeiten haben häufig selbst Erfahrung mit Diskriminierung und/oder fühlen sich von bestimmten Gruppen bedroht. Es ist daher sehr wichtig, dass sie sich informieren und äußern können – über die heutige Bedrohungslage und über die Verfolgung zur NS-Zeit. Nur so ist es für sie auch möglich, mit bestimmten Ängsten umzugehen.
#6 Stärkung der Persönlichkeit
Texte aus dem Bereich der Erinnerungskultur sind für Menschen mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten auch ein Anlass, nachzufragen und den Umgang mit bestimmten Themen zu lernen. Möglichen Ängsten kann begegnet und Menschen mit einer geistigen Behinderung können gestärkt werden.
Wie kann Erinnerungskultur für Menschen mit einer geistigen Behinderung aussehen?
#1 Erinnerungskultur in Leichter Sprache anbieten
Angebotene Texte müssen Sachverhalte so erklären, dass sie für Menschen mit einer leichten oder mittleren geistigen Behinderung gut verständlich sind.
Voraussetzung hierfür ist zum einen, dass der Übersetzer bzw. die Übersetzerin in Leichte Sprache sich im Bereich der Erinnerungskultur gut auskennt und mit Historiker*innen zusammenarbeitet.
#2 Zusammenarbeit mit Expert*innen
Durch Barrierefreiheit in der Geschichtsvermittlung und die starke Vereinfachung und Reduzierung von Inhalten darf es zu keinen Verfälschungen kommen. Ideal sind Übersetzer*innen, die sich auf diesen Bereich spezialisiert haben und die vielleicht sogar ein Studium der Geschichte mitbringen. Übersetzer*innen müssen einen Sachverhalt erst einmal selbst gründlich verstehen, bevor sie ihn für Menschen mit einer geistigen Behinderung verständlich formulieren können.
Damit es sprachlich zu keiner Überforderung kommt, sollte der Übersetzer bzw. die Übersetzerin Leichte Sprache nicht im Eigenstudium, sondern in Form einer seriösen Ausbildung an einer Universität und/oder durch das Netzwerk Leichte Sprache e. V. erlernt haben. Leichte Sprache lässt sich nicht improvisieren und auch nicht durch das bloße Durchlesen von Regeln erlernen.
#3 Entstehen von Texten im inklusiven Team
Die Texte sollten ferner immer im inklusiven Team mit Menschen mit einer geistigen Behinderung entstehen. Wichtig ist hierbei, dass Expert*innen für Leichte Sprache mit Menschen zusammenarbeiten, die sich für Erinnerungskultur interessieren. Die Prüfer*innen mit einer geistigen Behinderung sollten vor Beginn des Projekts gefragt werden, ob Themen, wie NS-Krankenmorde, Holocaust, Konzentrationslager etc., für sie okay sind.
#4 Prüfen in Präsenz
Zu empfehlen ist auch, Texte zu diesen Themen nicht online auf Barrierefreiheit zu prüfen, sondern in Präsenz. Die Prüfassistenz sollte von Betreuer*innen übernommen werden, die die Prüfer*innen gut kennen und auf deren Grenzen achten. Fühlen sich die Prüfer*innen mit der Prüfung von Texten aus dem Bereich Erinnerungskultur unwohl, sollten sie dies äußern können.
Besonders bei der Prüfung von Texten zum Nationalsozialismus benötigt die Prüfassistenz sehr viel Feingespür und Einfühlungsvermögen. Prüfer*innen sollte auch nach dem Prüfen Gelegenheit gegeben werden, über ihre Gefühle im Hinblick auf den Text zu sprechen. Einige benötigen sicher auch Trost.
#5 Zeitmarker einbauen
Wichtig ist auch, die Dimension der Zeit anschaulich zu vermitteln. Besucher*innen von Ausstellungen und Gedenkorten sollten ein Gefühl für das Gestern und für das Heute bekommen. Dies ist zum Beispiel möglich, indem Besucher*innen mit einer geistigen Behinderung Erinnerungen an die eigenen Großeltern einbringen (so diese vorhanden sind): Wann sind die Besucher*innen geboren? Wann wurden ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern geboren? Veranschaulicht werden kann dies während eines Ausstellungsbesuchs am besten an einem Zeitstrahl, auf dem sich auch die Zeit des Nationalsozialismus befindet und auf dem an Objekte erinnert wird, die in dieser Zeit entstanden sind (zum Beispiel Fernseher, Handy …). Interessante Anregungen findest du zum Beispiel auf Der Nationalsozialismus: Gemeinsam lernen in leicht verständlicher Sprache.
#6 Ausstellungen in Begleitung besuchen
Der Nationalsozialismus ist kein leichtes Thema. Ausstellungen über den Nationalsozialismus werden am besten in Begleitung besucht. So können Fragen gestellt und Gefühle geäußert werden.
#7 Führungen und Workshops in Leichter Sprache
Sinnvoll ist, an Gedenkorten auch kurze Führungen und Workshops in Leichter Sprache anzubieten, die einen Austausch ermöglichen. Möglich sind im Anschluss auch kreative Formen, wie Malen und Ausdruckstanz, mit denen der Besuch von Menschen mit einer geistigen Behinderung verarbeitet werden kann. Erste Erfahrungen mit nicht-behinderten Menschen wurden im Hinblick auf eine kreative Aufarbeitung von Gefühlen bereits an der Gedenkstätte Ravensbrück gesammelt.
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