In letzter Zeit bekam ich von NS-Gedenkstätten vermehrt Texte in Leichter Sprache bzw. in stark vereinfachter Sprache zum Lektorat vorgelegt.
Die Historiker*innen, die die leicht verständlichen Texte selbst verfasst hatten, hatten im Vorfeld einen Crash-Kurs in Leichter Sprache absolviert und wollten, dass sich eine zertifizierte Übersetzerin die Leichte-Sprache-Texte vor der Veröffentlichung noch einmal ansieht.
Dies ist in der Tat auch eine Leistung, die ich seit kurzem für NS-Gedenkstätten anbiete.
Natürlich war an den Texten noch einiges zu verändern, damit ihre Inhalte für die Zielgruppe Menschen mit einer geistigen Behinderung wirklich leicht verständlich waren. (Ein Crashkurs in Leichter Sprache kann nur ein paar “grobe Linien” vermitteln!)
Ein Punkt fiel mir ganz besonders auf: Die mir zum Lektorat von den NS-Gedenkstätten vorgelegten Texte waren in der Regel im Präsens verfasst.
Leichte-Sprache-Texte für NS-Gedenkstätten: Tempuswahl
Wie ich bereits in meinem Blogartikel Welche Tempora verwendet Leichte Sprache? ausgeführt habe, verfügt Leichte Sprache über ein stark reduziertes Tempussystem. Das heißt: In Leichter Sprache werden im Wesentlichen zwei Tempora verwendet, nämlich das Präsens und das Perfekt.
Ereignisse, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben, werden meist im Perfekt dargestellt, also zum Beispiel:
Die National-Sozialisten haben viele Menschen ermordet.
Möglich ist durchaus auch das Präsens, jedoch halte ich die Verwendung der Gegenwartsform in Leichte-Sprache-Texten oder auch Texten in stark vereinfachter Einfacher Sprache für NS-Gedenkstätten nicht für optimal.
Warum? Die Hauptzielgruppe Leichter Sprache und auch stark vereinfachter Einfacher Sprache sind Menschen mit einer leichten bis mittelgradigen geistigen Behinderung. Ereignisse, die im Präsens dargestellt werden, werden von diesen Menschen häufig auch als Geschehnisse interpretiert, die in der Gegenwart stattfinden.
Heißt es also zum Beispiel:
Die National-Sozialisten ermorden viele Menschen.
entsteht bei vielen Leser*innen der Eindruck, dass dem jetzt im Moment so ist, was bei Texten in Leichter Sprache oder stark vereinfachter Einfacher Sprache, in denen es um NS-Krankenmorde, Holocaust, Krieg, Deportationen, Konzentrationslager und Vernichtungslager geht, große Ängste schüren kann.
Meine Empfehlung für Historiker*innen und Kurator*innen lautet daher:
Leicht verständliche Texte, die für NS-Gedenkstätten angefertigt werden, sollten bei der Darstellung von vergangenen Ereignissen grundsätzlich im Perfekt abgefasst sein.
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Foto: © Andrea Halbritter