Viele Übersetzungen in Leichte Sprache für Gedenkstätten und andere Erinnerungsorte sind … schlecht. Woran liegt das? Ich habe mir fünf Leichte-Sprache-Broschüren für KZ-Gedenkstätten und Lernorte angeschaut. Was in diesen Übersetzungen No-Gos sind, verrate ich dir hier.
No-Gos in Leichte-Sprache-Übersetzungen für Gedenkstätten und Erinnerungsorte
Übersetzungen in Leichte Sprache weisen eine sehr unterschiedliche Qualität auf – auch wenn es sich um Texte für NS-Gedenkstätten und andere Erinnerungsorte handelt.
Für die mangelnde Qualität von Leichte-Sprache-Broschüren gibt es viele Gründe:
• Wenig Erfahrung der Übersetzer*innen in der Erstellung von Leichte-Sprache-Texten
• Eine unzureichende Ausbildung, was Übersetzung in leicht verständliche Sprache betrifft
• Kaum Kenntnisse in Sachen Geschichte des Nationalsozialismus
• Nichtbeachtung von Regelwerken oder DIN-Vornorm
• Fehlende Einbindung der Hauptzielgruppe Leichter Sprache
• Pseudo-Prüfen der Übersetzung auf Verständlichkeit
Welche No-Gos mir in den Leichte-Sprache-Texten für Gedenkstätten und Erinnerungsorte aufgefallen sind, erfährst du jetzt. Um niemanden bloßzustellen, nenne ich die Namen von Gedenkstätten und Übersetzer*innen beziehungsweise Büros für Leichte Sprache nicht.
#1 Viel zu lange Leichte-Sprache-Texte für NS-Gedenkstätten
No-Go Nr. 1 ist das Volumen. Viele Übersetzungen in Leichte Sprache sind erheblich zu lang. Viele Rundgangs-Broschüren und andere Materialien in Leichter Sprache haben zwischen 100 und 200 Seiten.
Liebe Leute, das ist zwar gut gemeint, aber viel zu lang! Meint ihr wirklich, dass sich eine Person mit einer geistigen Behinderung mit einer derart langen Broschüre in Leichter Sprache auf einen Rundgang macht? Oder dass sie ihren Besuch in einer Gedenkstätte damit vor- oder nachbereiten kann? Die wenigsten Personen ohne intellektuelle Einschränkungen sind bereit, einen Besuch mit einer derart umfassenden Publikation vorzubereiten. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind mit so langen Texten aber schlicht und ergreifend überfordert.
Nun kann ich ja verstehen, dass manche Historiker*innen sich damit schwertun, auf Inhalte zu verzichten. Was ich nicht verstehen kann, ist, dass es Expert*innen für Leichte Sprache gibt, die da mitmachen. Klar ist es schön und auch sehr lukrativ, statt einer 20-Seiten-Broschüre 160 oder 180 Seiten in Leichter Sprache zu verkaufen. Nur ist das nicht der Zweck der Leichten Sprache.
Die Aufgabe von Leichte-Sprache-Übersetzer*innen ist es, den Kunden zu beraten und ihm klarzumachen, was die Zielgruppe braucht. Und das sind keine 180 Seiten über die Geschichte eines ehemaligen Konzentrationslagers. Es sind die Basic Infos in 10 bis 20 Seiten, siehe auch: Wie viel Leichte Sprache brauchen Museen und Gedenkstätten?
Zusatzangebote in Leichter Sprache sind dann immer noch möglich:
• Kurze Blogartikel in Leichter Sprache
• Eine Audiotour in Leichter Sprache durch die Gedenkstätte
• Eine Führung à maximal 45 min in Leichter Sprache Plus
…
#2 Zu viele schwere Wörter in Leichte-Sprache-Übersetzungen für Gedenkstätten
In jeder seriösen Ausbildung lernen Übersetzer*innen in Leichte Sprache: Leichte Sprache benutzt – wenn möglich – leichte Wörter. Wörter müssen weit verbreitet und kurz sein. Andere Wörter werden nur in Ausnahmefällen verwendet. In der Leichte-Sprache-Ausbildung gibt’s dann häufig folgendes Beispiel: Wir sagen nicht „Omnibus“, sondern „Bus“.
Trotzdem lese ich in Leichte-Sprache-Broschüren für NS-Gedenkstätten:
Schutzhaftlager, Pulver- und Munitionsfabrik, Kriminalpolizei, Novemberpogrome, Bunkerhof, Personengruppen, Propagandaaufnahme, Rüstungsfirmen, Wirtschaftsunternehmen, Rüstungswerkstätten, Großbunker, Übungslager, Wohngebäude, Versorgungsgebäude, Hauptausstellung, Wachanlage, Häftlingswinkel, Nachfolgeorganisation, Fürsorgeerziehung, Fürsorgeheim, Mordanstalt, lebensgefährlich, Gelegenheitsarbeiter, Krematoriumsbereich, Versuchsgut …
Erinnert euch doch mal an das Beispiel mit dem Omnibus!
Und dann übersetzt:
• Schutzhaftlager in Lager
• Kriminalpolizei in Polizei
• Bunkerhof in Hof
• Personengruppen in Gruppen
• Propagandaaufnahme in Foto
• Häftlingswinkel in Winkel
• Fürsorgeheim in Heim
…
Nein, Bindestriche oder Mediopunkte machen die Misere meist nicht besser! Wählt ganz einfach ein kurzes, leicht verständliches Wort. Punkt.
Wenn ihr trotzdem ab und zu ein schweres Wort verwenden müsst, erklärt es. Und zwar nicht irgendwo. (Manche Erklärungen habe ich selbst kaum gefunden. Wie soll die eine Person mit Lernschwierigkeiten finden?)
#3 Vorgangspassiv in Leichter Sprache für NS-Gedenkstätten
Ja, Vorgangspassiv ist praktisch. Aber: Vorgangspassiv ist schwer verständlich. Du weißt nicht, was Vorgangspassiv ist? Hier ein paar Beispiele aus Leichte-Sprache-Broschüren für NS-Gedenkstätten:
Im Vernichtungslager Auschwitz sind nämlich besonders viele Menschen getötet worden.
Es wurden etwa 22.600 Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Deshalb wurde dann die KZ-Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Häftlingslagers gestaltet.
Sie wurde in der Mordanstalt [Name] in [Ort] getötet.
Ja, Vorgangspassiv ist in diesen Sätzen nicht das einzige Problem … Es gibt auch schwere Wörter, überflüssige Wörter und Zahlen.
Mehr zu Passiv erfährst du in meinem Artikel: Werft endlich das Passiv raus!
#4 Zahlen, Zahlen, überall Zahlen in Leichte-Sprache-Texten für Erinnerungsorte
Ja, in Geschichtstexten kommt man nicht ohne Zahlen aus. Nein, du musst in deiner Leichte-Sprache-Broschüre trotzdem nicht jede Zahl aus der Vorlage übernehmen. Was bitte sollen Menschen mit Lernschwierigkeiten zum Beispiel mit der Zahl 22.600 anfangen? Viele sind schon von Zahlen ab 30 überfordert.
#5 Hätte, hätte, Fahrradkette …
In Leichter Sprache gibt es keinen Konjunktiv. Dennoch lese ich in manchen Broschüren für Erinnerungsorte:
[Name] hätte nicht sterben müssen.
Ich hätte schon längst geschrieben.
Zum Ausdruck einer Möglichkeit steht in Leichter Sprache kein Konjunktiv zur Verfügung. Ihr müsst das umformulieren. Ja, das ist Aufwand. Ja, dafür muss man sich anstrengen. Ja, dafür muss man eventuell 20 Minuten eine Lösung finden. Ja, da stellt man vielleicht durch die Prüfgruppe fest, dass die Lösung noch nicht ideal war.
#6 Präteritum, Plusquamperfekt und vieles mehr
In manchen Leichte-Sprache-Broschüren von Erinnerungsorten findet sich neben Konjunktiv auch ein ganzer Mix an verschiedensten Zeitformen:
Dort erhängte er sich.
Er hatte eine andere Frau geheiratet.
Sein Vater hatte sich von seiner jüdischen Frau getrennt.
[Name] verlangte beim Gericht in [Ort]:
Plusquamperfekt (hatte geheiratet, hatte sich getrennt) gibt es in Leichter Sprache nicht! Es ist in Leichter Sprache auch gar nicht nötig, wenn du korrekt arbeitest. Plusquamperfekt drückt nämlich eine Vorzeitigkeit aus. Die Aufgabe von Übersetzer*innen in Leichte Sprache ist es jedoch, Ereignisse in ihre chronologische Reihenfolge zu bringen.
Präteritum wird nur sehr sparsam eingesetzt, siehe auch Tempus in Leichte-Sprache-Texten für NS-Gedenkstätten und Welche Tempora verwendet Leichte Sprache?
#7 Andere No-Gos in Leichte-Sprache-Texten für Lern- und Erinnerungsorte
Andere No-Gos, die ich festgestellt habe:
• Fehlende Kennzeichnung von Negationspartikeln, wie nicht, nie, niemand, nichts
• Nominalstil
• Nebensätze, Nebensätze, Nebensätze
• Der Leichte-Sprache-Text kommt nicht auf den Punkt.
In manchen Leichte-Sprache-Broschüren befinden sich auch Abschnitte, die ich selbst nicht verstehe. Die Beispiele erspare ich euch.
Fazit: Leichte Sprache und Broschüren für Erinnerungsorte
Ja, ich bin sauer. Das merkst du sicher auch. Ich bin sauer, weil es viele Museen, Erinnerungsorte und Gedenkstätten gibt, die ihren Besucher*innen gut verständliche Texte bieten möchten. Ich bin sauer, weil Lernorte inklusiv sein wollen und dafür viel Geld ausgeben. Ich bin sauer, weil ihr dieses Geld nehmt und daraus nichts Gutes macht. Leichte Sprache ist keine Alibi-Veranstaltung. Sie soll für Teilhabe sorgen. Diese Broschüren bieten aber keine Teilhabe. Sie verbrennen einfach nur Geld.