Wer die letzten Tage auf LinkedIn unterwegs war, hört sie förmlich knallen: die Sektkorken in der Redaktion der Tagesschau. Auf Twitter/X dagegen häufen sich die ableistischen Kommentare zum neuen Format der Tagesschau in Einfacher Sprache. Christian Lindner wiederum trägt den „Minister für Geld“ mit Humor und bezeichnet sich scherzhaft als „Minister für kein Geld“.
Von mir wollen bereits erste Followys wissen: Wie gut ist die Tagesschau in Einfacher Sprache? Kannst du etwas zu den Nachrichten in Einfacher Sprache sagen?
Welchen Eindruck ich bisher von der Tagesschau in Einfacher Sprache habe, habe ich dir in diesem Artikel zusammengestellt. Du bist Diversity-Manager*in, Redaktionsleiter*in oder Programmverantwortliche*r bei der ARD? Sorry schon vorab, wenn ich dir gleich als Expertin für Leichte und Einfache Sprache die Feierlaune verderbe.
Wie gut ist das neue Angebot der Tagesschau in Einfacher Sprache?
Positive Aspekte der Tagesschau in Einfacher Sprache
#1 Endlich ein leicht verständliches Nachrichtenangebot
Zunächst einmal ist es natürlich eine tolle Sache, dass die ARD endlich tagesaktuelle, leicht verständliche Nachrichten im Fernsehen anbieten will. Irgendwie waren die aber – ehrlich gesagt – schon lange überfällig. Schließlich werden ARD und ZDF ja geräteunabhängig aus unser aller Beiträge finanziert und sollten sich daher Barrierefreiheit in besonderem Maße verpflichtet fühlen.
Dies betont auch Paragraf 26 des Medienstaatsvertrags vom 1. Januar 2024: „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben die Aufgabe, ein Gesamtangebot für alle zu unterbreiten. (…) Allen Bevölkerungsgruppen soll die Teilhabe an der Informationsgesellschaft ermöglicht werden.“
#2 Reduzierung auf vier bis fünf Themen plus Wetter
Jede Tagesschau in Einfacher Sprache beschränkt sich auf vier bis fünf Themen, die zu Beginn der Sendung kurz vorgestellt werden. Eine Reduzierung, die aus meiner Sicht sinnvoll erscheint – jedenfalls bei der derzeitigen Länge der Beiträge.
#3 Regelmäßiger Sendetermin zu festen Zeiten
Die Nachrichten in Einfacher Sprache werden fünfmal pro Woche immer um 19 Uhr auf tagesschau24 ausgestrahlt. Sie können jederzeit auch zu einer anderen Uhrzeit in der Mediathek sowie auf YouTube geschaut werden. Okay, Wochenende wäre auch schön … Aber fünfmal ist für leicht verständliche Nachrichten im Fernsehen ein guter Anfang!
#4 „Willkommen …“
Bereits zu Beginn der Sendung wird betont, dass es sich um leicht verständliche Nachrichten handelt: „Willkommen zur Tagesschau in Einfacher Sprache“.
#5 Erklärung von schwierigen Wörtern
Schwierige Wörter werden in der Tagesschau in Einfacher Sprache erklärt, leider teils auch Wörter, die nicht schwierig sind (dazu aber später mehr). Besonders geglückt fand ich am 12. Juni im Beitrag zu Anne Frank die Erklärung zu Vorurteilen: „Vorurteil bedeutet: ohne Grund schlecht über andere denken.“
#6 Die Texte werden langsam vorgelesen
In der Tagesschau in Einfacher Sprache werden die Texte langsamer vorgetragen als in der Tagesschau in Standarddeutsch. Die Sprechgeschwindigkeit passt gut. [Nachtrag: Inzwischen erreicht mich Feedback aus zwei Wohngruppen, die die Sprechgeschwindigkeit zu schnell finden.]
#7 Das Tempussystem ist deutlich reduziert
Das Tempussystem ist deutlich reduziert. Wird von Geschehnissen in der Vergangenheit berichtet, wird in der Regel Perfekt verwendet.
Negative Aspekte der Tagesschau in Einfacher Sprache
#1 Eine Umbenennung der Tagesschau in Einfacher Sprache ist nötig
Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass es sich bei dem angebotenen Format nicht um Einfache Sprache handelt. Die Sprachform ist dafür zu stark vereinfacht und bietet Erklärungen, die von Menschen mit einer geistigen Behinderung benötigt (und teils auch nicht benötigt) werden. Kann das Format dann „Tagesschau in Leichter Sprache“ genannt werden? Schon eher! Wobei … Nun ja, lies einfach mal weiter …
#2 Schwer verständliche Schlagzeilen
Die Schlagzeilen, mit denen die 4 Themen der Auftaktsendung am 12. Juni vorgestellt wurden, waren wenig aussagekräftig beziehungsweise schwer verständlich: „Bundeswehr: Plan für junge Menschen“; „Falsche Väter: Regierung gegen Betrug“; „Schulen: Aktion gegen Hass auf Juden“; „Elektro-Autos: China soll mehr Geld zahlen“. Vermeidet doch bitte Nominalstil! Möglich wäre zum Beispiel: „Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten“ …
#3 Viel zu viel Blabla
Beim Anhören der Nachrichten werden Geduldsfaden und Aufmerksamkeitsspanne stark strapaziert. Das Wichtigste wird in der Tagesschau in Einfacher Sprache nicht am Anfang, sondern am Schluss erwähnt.
Vorher erfolgt ein ellenlanges, viel zu kleinschrittiges Blabla, zum Beispiel: „In Deutschland heißt das Militär Bundeswehr. Bei der Bundeswehr arbeiten Soldaten. Wenn es einen Angriff gibt, dann müssen die Soldaten kämpfen. Das ist Verteidigung. Der Minister für Verteidigung heißt Pistorius. Pistorius sagt: ‚Wenn es einen Angriff gibt, dann haben wir nicht genug Soldaten. Deshalb brauchen wir mehr Soldaten. Pistorius hat jetzt einen Plan gemacht.“
Projektleitung Sonja Wielow verteidigt dies in einem Interview: „Wir tasten uns dann quasi vom Bekannten zum Neuen hin.“ Ähm, ja … How to say? Getastet wird viel zu viel. Menno, kommt doch mal auf den Punkt! Zuerst das Neue, dann die Erklärung. Wir können uns das gern mal zusammen anschauen. Dann klappt’s auch mit der Tagesschau in Leichter Sprache.
#4 Keine eindeutig definierte Zielgruppe
Wie es zu diesem Blabla kommt? Vermutlich unter anderem wegen der nicht eindeutig definierten Zielgruppe. Die Tagesschau in Einfacher Sprache versucht es allen recht zu machen: Menschen mit einer geistigen Behinderung, Personen, die erst seit kurzem Deutsch lernen, Personen aus bildungsfernen Schichten … Und so kommt’s, dass einige Erklärungen für die einen überflüssig sind, während die anderen sie vielleicht brauchen (und umgekehrt).
Besser wäre es, von einer klar definierten Zielgruppe auszugehen und die Tagesschau in einfach darauf auszurichten. Meine Empfehlung: Menschen mit Lernschwierigkeiten beziehungsweise einer geistigen Behinderung, die in Deutschland aufgewachsen sind.
Eine Erklärung für die Bundeswehr könnte dann zum Beispiel entfallen. Eine ausschweifende Erklärung, was Soldaten machen, braucht … niemand. Einfach weglassen. Danke!
#5 Zu lange Beiträge in der Tagesschau in Einfacher Sprache
Zu lang sind die Beiträge in der Tagesschau in Einfacher Sprache auch, weil Inhalte im selben oder ähnlichen Wortlaut wiederholt werden: „Der Minister heißt Pistorius.“ (2x); „Pistorius sagt: ‚Die jungen Menschen sollen freiwillig zur Bundeswehr kommen. Ich will die jungen Menschen nämlich nicht zwingen.‘“ Genügen würde: „Die jungen Menschen sollen freiwillig zur Bundeswehr.“ Den zweiten Satz braucht es nicht, da es sich um denselben Inhalt handelt.
#6 Schwer verständliche Strukturen
Noch dazu enthält „Ich will die Menschen nämlich nicht zwingen“ eine Verneinung, was in Leichter Sprache sehr ungünstig ist. Leichte Sprache formuliert – wenn immer es geht – positiv. „Kommen“ ist überflüssig, das Modalverb nicht ideal. Besser wäre in der Tagesschau in einfach: „Pistorius will, dass die jungen Menschen freiwillig zur Bundeswehr gehen.“
#7 Inhalte werden nicht klar
Wie Pistorius zu mehr Soldat*innen kommen will, wird für mich im Beitrag zur Bundeswehr nicht klar. Wer muss alles Fragen beantworten? Warum? Wie geht das vonstatten? Wer wird wie ausgewählt? Unklarheiten über Unklarheiten. Viel zu viel Input.
Anne Franks Tagebuch wird nicht als solches benannt. Stattdessen redet Simone Holst von „Gedanken aufgeschrieben“ und „Buch mit den Gedanken von Anne Frank“. Holla die Waldfee! Wie kommt man auf so was???
Aber schlimmer geht immer, so im Beitrag der Tagesschau in Einfacher Sprache zu China und Elektro-Autos: „Die chinesischen Elektro-Autos sind nicht so teuer. Der chinesische Staat gibt den chinesischen Autofirmen nämlich viel Geld dazu. Die europäische Union sagt: ‚Das ist nicht gerecht. Das Land China hat es dadurch einfacher. So einfach haben es die Autofirmen in der europäischen Union nicht.‘ Und die europäische Union sagt: ‚Damit es wieder gerecht wird, soll das Land China mehr Geld für die Elektro-Autos bezahlen.‘
Erklärt werden Strafzölle. Und das ziemlich schlecht. Fragen, die bei diesem Beitrag der Tagesschau in Einfacher Sprache auftauchen können: Wofür gibt der chinesische Staat den Autofirmen Geld? Warum ist mal von Land und mal von Staat die Rede? An wen soll China Geld bezahlen? Soll China den Autofirmen etwa noch mehr Geld geben?
Das Wort „Strafzoll“ fällt übrigens gar nicht. Schwierige Wörter zu vermeiden ist halt dann manchmal auch nicht so günstig …
#8 Es wird nicht gegendert
„Die Schüler haben …“ Sagt mal, waren da keine Mädchen dabei? Die Paarform sollte auf jeden Fall drin sein … (Okay, mir ist klar, nicht jede*r findet Gendern wichtig. Ich schon. Und es ist auch in Leichter Sprache möglich.)
#9 Sprecher*innen klingen nicht natürlich
Die Nachrichtensprecher*innen und Journalist*innen tun sich mit Leichter Sprache hörbar schwer. Die Sätze klingen abgehackt, roboterhaft. Bei den einen mehr, bei den anderen etwas weniger.
#10 Das Format ist wenig inklusiv
Warum werden die Nachrichten in Leichter Sprache eigentlich nicht von einer Person aus der Hauptzielgruppe vorgelesen, zum Beispiel einer Frau oder einem Mann mit Down Syndrom? Inwiefern sind Menschen mit Lernschwierigkeiten am Format überhaupt beteiligt? Bestimmen sie die Themenauswahl mit, prüfen sie, ob die Beiträge verständlich sind?
Dass eine Prüfung stattgefunden hat, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu ist die Leichte Sprache zu schlecht … Oder aber der Prüfvorgang läuft in einer Weise ab, die keine sinnvollen Rückmeldungen ergibt. Motto: „Sagt Bescheid, wenn ihr was nicht versteht!“ „Habt ihr alles verstanden? Ja? Super!“
Das Angebot richtet sich angeblich auch an Menschen mit einer Hörbehinderung, doch: Es fehlen Untertitel. Auch eine Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache ist nicht vorhanden. Oder kann man die irgendwo einstellen?
Andere Punkte zur Tagesschau in Einfacher Sprache
#1 Themenauswahl für die Tagesschau in Einfacher Sprache
Die Themenauswahl der ersten Nachrichtensendungen fand ich nicht ganz glücklich. Der Beitrag „Falsche Väter“ kann – vor allem in dieser stark vereinfachten Form – Ausländerhass schüren. Hier ist mehr Sensibilität gefragt.
Über Strafzölle zu berichten, ist für mich okay, auch wenn Strafzölle die Hauptzielgruppe Leichter Sprache nicht direkt betreffen. Schließlich sind Strafzölle ja trotzdem immer wieder Gespräch. Menschen mit Lernschwierigkeiten freuen sich vielleicht über leicht verständliche Infos zu dem Thema.
Andere Leichte-Sprache-Übersetzer*innen sind der Meinung, die Themenauswahl der ersten Sendungen habe nicht gepasst. Die Themen seien zu weit von der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten entfernt.
Was wir dazu meinen, ist jedoch letztlich egal. Wichtig wäre, dass Vertreter*innen der Hauptzielgruppe die Themenauswahl vornehmen. Also rein mit ihnen in die Redaktion (so sie da noch nicht sind). Und zusätzlich Umfragen starten.
#2 Interview mit Isabel Rink zur Tagesschau in Einfacher Sprache
Betreut wird das Projekt von der Forschungsstelle Leichte Sprache der Universität Hildesheim. In welchem Umfang weiß ich nicht. Beraten haben Isabel Rink und Rebecca Schulz. Das Ergebnis ist … mäßig. Der Umfang dann vielleicht doch nicht so groß?
Bei Isabel Rink habe ich in der Vergangenheit Kurse belegt. Ich hätte mir da in Sachen Nachrichten in Leichter Sprache ein besseres Ergebnis erhofft … Und eine Sensibilisierung dahingehend, dass es sich eben um keine Einfache Sprache handelt.
Teilweise befremdlich ist auch das Interview mit Isabel Rink zur Tagesschau in Einfacher Sprache. Schriftliche Sprache nimmt viel Platz ein, obwohl bei Nachrichtensendungen im Fernsehen Lese- und Schreibkompetenz nicht gerade im Vordergrund steht … Strange.
#3 Ankündigung im Vorfeld
Angekündigt wurde die Tagesschau in Einfacher Sprache von der ARD wie folgt: „Etwa 17 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme damit, komplexe Texte zu verstehen. Damit auch sie sich über aktuelle Themen informieren können, strahlt die tagesschau ab sofort Fernsehnachrichten in Einfacher Sprache aus.“ Nein, 17 Millionen Erwachsene haben damit keine Probleme. So formuliert ist das falsch.
„Laut der LEO-Studie 2018 lesen und schreiben etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren auf Vierte-Klasse-Niveau oder schlechter. Die Gründe dafür sind vielfältig: Diese Menschen lernen gerade erst Deutsch oder sie hatten nicht die Chance auf eine gute Bildung. Oder sie haben eine Hör-, Lese- oder Lernschwäche – oder eine Krankheit, wie etwa einen Schlaganfall.“ (Abruf vom 14.06.2024)
Leute, das Wording geht so gar nicht. Es führt zu Stigmatisierung. Da braucht sich dann auch niemand mehr über ableistische Kommentare auf Twitter/X wundern …
#4 Entstehung der leicht verständlichen Texte
Abschließend habe ich mich gefragt: Wie sind die Leichte-Sprache-Texte der Tagesschau entstanden? Bei der Qualität ist viel, viel Luft nach oben. Also freundlich gesagt. Handelt es sich um unerfahrene oder in einem Wochenendkurs ausgebildete Übersetzer*innen? Oder war da eine maschinelle Übersetzung am Werk? Die Qualität jedenfalls muss sich schnell verbessern, wenn das Projekt ein Erfolg werden soll!
Äußern wollte ich mich zur Tagesschau in Einfacher Sprache eigentlich erst nach ein bis zwei Wochen. Nach den ersten Nachrichtensendungen bin ich jedoch der Meinung: Es muss sich beim einfachen Angebot der Tagesschau schnell etwas ändern. Andernfalls nimmt das Format Schaden. Meinen Senf aus der Mecker-Ecke gibt’s daher schneller als ursprünglich von mir geplant.
Du bist Teil des Tagesschau-Teams und möchtest ganz konkret an Beispielen üben, damit die Tagesschau in einfach besser wird? Dann kannst du mich gern per E-Mail kontaktieren.
Aktualisierung vom 27.06.2024:
Durch diesen Artikel wurde Übermedien auf mich aufmerksam und hat mich in den Podcast “Holger ruft an” eingeladen: Wie gut gemacht ist die Tagesschau in Einfacher Sprache? Ein Podcast mit Holger Klein und Andrea Halbritter