Personen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch werden oft als eine der Zielgruppen von Leichter Sprache genannt. Doch ist Leichte Sprache wirklich für Deutschlernende geeignet?
Eignen sich Texte in Leichter Sprache für Deutschlernende?
Wie Menschen mit einer geistigen Behinderung benötigen Deutschlernende Texte in vereinfachtem Deutsch. Dies heißt jedoch nicht, dass Texte in Leichter Sprache für Menschen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch geeignet sind.
Deutschlernende: eine sehr heterogene Gruppe
Die Gruppe der Personen, die Deutsch als Zweit- (DaZ) oder Fremdsprache (DaF) erlernen, ist sehr heterogen. Manche Personen leben in Deutschland oder in einem anderen deutschsprachigen Land und lernen Deutsch in der Zielkultur. Andere leben im nicht-deutschsprachigen Ausland.
Die einen lernen Deutsch vor allem an Schulen oder in anderen Einrichtungen, wie zum Beispiel in Volkshochschulen oder Kulturinstituten. Oder aber sie nutzen Apps und haben Zugang zu deutschen Radio- oder Fernsehsendern. Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland oder Österreich leben, lernen Deutsch meist institutionell und gleichzeitig nicht institutionell gesteuert – zum Beispiel beim Einkaufen, im Gespräch mit ihren deutschen Nachbar*innen. Integrationskurse sind für viele verpflichtend.
Deutschlernende verfügen über unterschiedliche Sprachniveaus. Einzelne Fertigkeiten, wie die Informationssuche in schriftlichen Texten oder das Diskutieren über bestimmte Themen, sind oft unterschiedlich stark ausgeprägt. Eine Person versteht vielleicht schriftliche Texte auf B1+, befindet sich im mündlichen Sprachgebrauch jedoch auf einem Niveau A2.
Nicht nur sprachliche Fähigkeiten spielen eine Rolle
Bei allen Kompetenzen spielen nicht nur sprachliche Fähigkeiten eine Rolle. Entscheidend sind auch Fähigkeiten, wie: Informationen einordnen, die Wichtigkeit bestimmter Fakten erkennen, einer Argumentation folgen können, Gelesenes mit Vorwissen in Verbindung bringen … Gerade in diesen Punkten besteht ein großer Unterschied zwischen Deutschlernenden mit durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten und Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung tun sich schwerer, das Gelesene zu verarbeiten und einzuordnen. Sie benötigen kleinschrittigere Erklärungen. Für Deutschlernende ohne kognitive Beeinträchtigungen sind die Hürden beim Verstehen eines Textes vor allem sprachlicher Art: Wortschatzkenntnisse fehlen oder sprachliche Strukturen sind unbekannt. Wenn Nicht-Muttersprachler*innen aus einem ganz anderen Kulturkreis stammen, kann manchmal auch kulturelles Vorwissen fehlen.
Manche Leichte-Sprache-Regeln sind für Nicht-Muttersprachler*innen verletzend
Viele Leichte-Sprache-Regeln, die wichtig sind, damit Menschen mit einer geistigen Behinderung sich informieren können, sind für Deutschlernende nicht von Relevanz. Manche Regeln sind sogar kontraproduktiv, so zum Beispiel die Vermeidung von Prozentzahlen, hohen Zahlen oder Jahreszahlen. Nichtmuttersprachler*innen brauchen in der Regel auch keine kleinschrittigen Erklärungen, die zum Beispiel Kausalzusammenhänge erläutern.
Leichte Sprache kann für Deutschlernende verletzend sein, weil sich erwachsene Nicht-Muttersprachler*innen durch den stark vereinfachten Text nicht ernstgenommen fühlen. Eventuell erinnern Leichte-Sprache-Texte sogar an den sogenannten Foreigner-Talk – also an eine besondere Sprechweise Personen gegenüber, die man in der eigenen Muttersprache nicht für kompetent hält oder die man bewusst diskriminieren will. Ein Beispiel für Foreigner-Talk ist das Reden in Infinitiven: „Du müssen Fahrkarte kaufen.“ „Du mich verstehen?“ Foreigner-Talk ist ein Sprachstil mit kurzen Sätzen, ohne Endungen und Artikel. Benutzt werden nur leichte Wörter, die Aussprache ist überdeutlich, das Redetempo langsam und teils auch die Lautstärke hoch: „Du nix Deutsch?“
Wenn durchschnittlich begabte Nicht-Muttersprachler*innen Leichte-Sprache-Texte vorgelegt bekommen, sind sie unter Umständen verletzt. Oder sie fühlen sich so, als würde man sie wie Kinder behandeln.
Im Unterschied zu Menschen mit einer geistigen Behinderung sind Deutschlernende in der Lage, ihre Sprachkompetenzen stetig zu erweitern – manche sogar sehr schnell. Ein Potenzial, das Menschen mit reduzierten intellektuellen Fähigkeiten in der Form nicht besitzen. In gewissen Grenzen ist es jedoch auch Menschen mit Lernschwierigkeiten möglich, ihren Wortschatz auszubauen.
Unterschiedliche Gruppen = unterschiedliche Anforderungen an Texte
Wortschatz
Deutschanfänger*innen und Menschen mit einer geistigen Behinderung sind darauf angewiesen, dass Texte einfache Wörter enthalten. Eine Person mit Lernschwierigkeiten, die in Deutschland aufgewachsen ist, hat jedoch einen größeren Deutschwortschatz als eine frisch eingewanderte Person, die gerade erst mit dem Deutschkurs startet.
Im Unterschied zu Menschen mit Lernschwierigkeiten verstehen Deutschlernende aber Internationalismen. Personen, die in einem französischsprachigen Land aufgewachsen sind, freuen sich über Gallizismen im Text: Bain-Marie, Bombardement, Bouillon, Distanz, echauffieren, Etage … Menschen mit Lernschwierigkeiten können sich die Bedeutung von Gallizismen meist nicht erschließen.
In Leichter Sprache gilt: Gleiche Wörter für gleiche Dinge. Indem Dinge und Personen immer gleich bezeichnet werden, entsteht keine Verwirrung. Sicher sind Texte, welche die immer gleichen Bezeichnungen enthalten, auch für Deutschanfängerinnen besser zu verstehen. Das Ziel von Texten, die sich an Deutschlernende richten, muss jedoch auch sein, deren Wortschatz zu erweitern. Die Regel „Gleiche Wörter für gleiche Dinge“ sollte daher nicht in allen Texten für Nicht-Muttersprachlerinnen zur Anwendung kommen. Stattdessen müssen wir unterscheiden: Was wollen wir mit unserem Text erreichen?
Pronomen
Pronomen können Deutschlernende und Menschen mit einer geistigen Behinderung vor Herausforderungen stellen: Um zu wissen, wer oder was mit dem Pronomen gemeint ist, müssen Bezüge hergestellt werden. Schauen wir uns zum Beispiel diese beiden Sätze an: „Die junge Frau saß auf dem Mäuerchen. Es war grau.“ Leser*innen müssen zwischen „es“ und „Mäuerchen“ einen Bezug herstellen, um zu wissen, was grau war. Sicher gelingt dies nur, wenn klar ist, dass Mäuerchen Neutrum ist („das Mäuerchen“). Noch schwieriger wird es, wenn in einem Satz mehrere Pronomen vorkommen: „Die junge Frau schrieb eine Postkarte. Sie warf sie ein.“
Insbesondere das Pronomen „sie“ stellt Menschen mit einer geistigen Behinderung vor Probleme. Das Pronomen „sie“ solltest du daher in Leichter Sprache vermeiden. Auch Deutschanfänger werden mit „sie“/„Sie“ Probleme haben. Auf Französisch zum Beispiel kann „sie“ beziehungsweise „Sie“ „elle“, „la“, „les“, „vous“ bedeuten. Unterscheidet sich das Geschlecht eines Substantivs im Deutschen von dem im Französischen, kann „sie“ auch für „il“ oder „le“ stehen. Verwirrend, wenn man im Deutschen noch nicht sehr fortgeschritten ist.
Satzbau
Kurze Sätze sind für Deutschanfängerinnen und Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen von Vorteil. Jedoch ist es Nicht-Muttersprachlerinnen möglich, Konjunktionen und die Beziehung zwischen Haupt- und Nebensätzen zu verstehen. Menschen mit Lernschwierigkeiten musst du Kausalzusammenhänge, Bedingungen oder Gegensätze kleinschrittig in mehreren Sätzen erklären. Heißt: Nebensätze mit „falls“, „wohingegen“ oder „obwohl“ sind immer schwer verständlich. Nebensätze mit „weil“ sind es oft, aber nicht immer.
Verzicht auf Nominalstil
Übertriebener Nominalstil ist für alle schwer verständlich. In Leichte-Sprache-Texten werden Substantive auch darüber hinaus vermieden. Leichte Sprache bevorzugt Verben. So schreiben Leichte-Sprache-Expert*innen zum Beispiel: „Am 30.11. wählen Sie den Bundestag.“ und nicht: „Am 30.11. sind Bundestagswahlen.“
DaF- und DaZ-Lernende erlernen Substantive meist leichter als Verben. Dies hat unterschiedliche Gründe. Substantive lassen sich meist besser verbildlichen und viele Verben können ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. „Kommen“ zum Beispiel bedeutet – je nach Kontext – ankommen, sich nähern, an etwas teilnehmen, jemanden besuchen, gebracht werden, sich in bestimmter Weise benehmen, sich in belästigender Weise an jemanden wenden, in Erscheinung treten, ordnungsgemäß an einen bestimmten Platz gelegt werden, einen Platz erhalten, in eine bestimmte Lage geraten, Zeit für etwas finden, sich ereignen, etwas erlangen, an der Reihe sein, den Grund in etwas haben, vererbt werden, kosten …
Nur eine Aussage pro Satz
Um Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht zu überfordern, gilt in Leichter Sprache: Jeder Satz darf nur eine Aussage haben. Sätze, wie: „Bringen Sie einen großen Rucksack mit!“ oder „Birgit hat lange blonde Haare.“, enthalten schon zwei Aussagen. Im Fall des ersten Satzes: 1. Bringen Sie einen Rucksack mit. 2. Der Rucksack soll groß sein. Und im Fall des zweiten Satzes: 1. Birgit hat lange Haare. 2. Ihre Haare sind blond.
Daraus für Deutschlernende mehrere Sätze zu basteln wäre absoluter Unfug.
Tempora
Leichte-Sprache-Texte kennen im Wesentlichen zwei Zeitstufen: Präsens und Perfekt. Das Präteritum wird nur bei bestimmten Verben verwendet.
Auch für Deutschlernende, die wenig mit schriftlichen deutschen Texten in Kontakt gekommen sind, empfehle ich das Perfekt. In vielen Regionen dominiert es die mündliche Sprache. Außerdem ist das Partizip Perfekt häufig besser zu erkennen als eine Präteritums-Form: Dass „gefahren“ von „fahren“ kommt und „getragen“ von „tragen“, erschließt sich leicht. Dass „fuhr“ von „fahren“ und „trug“ von „tragen“ abstammt, schon weniger.
Zahlen
Wie bereits oben erwähnt, sind Menschen mit einer geistigen Behinderung von Zahlen schnell überfordert. Insbesondere unter Zahlen über 50 können sich viele Personen nichts vorstellen. Anstatt Zahlen zu verwenden, schreiben Leichte-Sprache-Übersetzerinnen eher „wenige“, „viele“ oder „sehr viele“. Leichte-Sprache-Expertinnen vermeiden auch Jahreszahlen – außer es handelt sich zum Beispiel um einen Text für ein Geschichtsmuseum. Da wird’s dann schwierig, Jahreszahlen komplett aus den Leichte-Sprache-Texten zu kicken …
Für Menschen mit einer durchschnittlichen Intelligenz sind Zahlen kein Problem. Zu viele sollten in einem Text aber nicht vorkommen. Denn irgendwann ist Schicht im Schacht …
Zusammenfassung: Eignet sich Leichte Sprache für Deutschlernende?
Ist Leichte Sprache für Deutschlernende geeignet? Leichte-Sprache-Texte helfen Nicht-Muttersprachlerinnen, an bestimmte Informationen zu kommen. Dennoch sind Texte in Leichter Sprache für Deutschlernende eigentlich ungeeignet. Die Hauptzielgruppe Leichter Sprache, Menschen mit einer geistigen Behinderung, hat andere Anforderungen an Texte als Deutschanfängerinnen mit einer mindestens durchschnittlichen Intelligenz. Dies kann dazu führen, dass sich Nicht-Muttersprachler*innen veräppelt fühlen, wenn du ihnen Leichte-Sprache-Texte vorlegst. Für Personen, die Deutsch erst seit kurzem lernen, empfehle ich eine stark vereinfachte Form der Einfachen Sprache.
Doch auch zu sagen, dass alle Menschen mit reduzierten intellektuellen Fähigkeiten Leichte Sprache brauchen, ist falsch. Ich bekomme zum Beispiel immer wieder Anfragen von Einrichtungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die sich von Leichter Sprache unterfordert fühlen. Für Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung können Texte in Leichte Sprache Plus ausreichend sein. Leichte Sprache Plus ist etwas komplexer als Leichte Sprache. Zum Beispiel beschränken sich Sätze nicht immer nur auf eine Aussage. Oder Erklärungen erfolgen nicht ganz so kleinschrittig.
Bei der Erstellung von Texten solltest du dich immer fragen: Was will ich mit meinem Text? Wer soll ihn lesen und verstehen? Was ist das Ziel? Manche Texte werden auch geschrieben, um den Wortschatz ihrer Leser*innen zu erweitern. In diesem Fall macht es keinen Sinn, auf Abwechslung komplett zu verzichten.