Wenn du dich für Teilhabe und Inklusion interessierst, ist dir sicher schon der Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ begegnet. Die Wurzeln des Slogans liegen in der Behindertenbewegung der 1980er-Jahre. In der UN-Behindertenrechtskonvention ist er fest verankert. Er bedeutet, dass nicht über die Köpfe behinderter Menschen hinweg entschieden wird. Für Leichte-Sprache-Texte muss ein anderes Motto gelten: „Nichts für uns ohne uns“. Für mich heißt das, dass die Zielgruppe Leichter Sprache bei der Entstehung von Leichte-Sprache-Texten eingebunden wird.
Wie Vertreter*innen der Zielgruppe Leichter Sprache mitarbeiten können, erfährst du in diesem Artikel.
Wie ist es möglich, die Zielgruppe Leichter Sprache bei der Entstehung von Texten einzubinden?
Die Hauptzielgruppe von Leichte-Sprache-Texten besteht laut Netzwerk Leichte Sprache e. V. aus Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die meisten Texter*innen oder Übersetzer*innen in Leichte Sprache binden Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung gegen Ende der Texterstellung als Prüfer*innen ein.
Darüber hinaus sind Menschen mit Lernschwierigkeiten (so in der Regel die Eigenbezeichnung) nur selten am Entstehungsprozess von Leichte-Sprache-Texten beteiligt.
Wenige Expert*innen für Leichte Sprache arbeiten mit der Hauptzielgruppe gar nicht zusammen. Sie setzen statt auf Prüfer*innen auf technische Tools.
Welche Möglichkeiten es gibt, Leichte-Sprache-Texte nach dem Motto „Nichts für uns ohne uns“ zu erstellen und Menschen mit Lernschwierigkeiten einzubinden, verrate ich dir jetzt.
#1 Beteiligung beim Finden von Themen oder Schwerpunkten
Aus meiner Sicht sollte die Hauptzielgruppe Leichter Sprache so früh wie möglich beim Entstehungsprozess von Texten in Leichter Sprache dabei sein.
Besonders gut ist dies bei Projekten möglich, bei denen Auftraggeber Leichte-Sprache-Texter*innen große Freiheiten lassen. Beispiel: Der Kunde gibt ein bestimmtes Budget und Oberthema vor, zu dem mehrere Leichte-Sprache-Texte geschrieben werden sollen. Bevor du als Leichte-Sprache-Texterin ein Konzept entwickelst, kannst du Menschen mit einer geistigen Behinderung fragen: Was interessiert dich zu diesem Thema? Wozu möchtest du mehr erfahren? Was weißt du schon? …
Je nach Reaktion der Gruppe können die Fragen offener oder geschlossener sein. Eventuell kannst du auch schon Themen vorgeben und Vertreter*innen der Hauptzielgruppe Leichter Sprache fragen: Was davon interessiert dich sehr? Was interessiert dich gar nicht? … (Ich persönlich würde immer mit offenen Fragen beginnen und anfangs nicht zu stark lenken.)
Auf der Basis dieser Befragung kannst du deinem Kunden mehrere Unterthemen vorschlagen und nach der Abstimmung mit dem Auftraggeber mit dem Schreiben der Leichte-Sprache-Texte starten.
Begonnen habe ich auf diese Weise bereits mehrere Projekte, zum Beispiel für die Staatlichen Archive Bayerns und den Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung. Die Kundenvorgaben waren jeweils sehr allgemein: Leichte-Sprache-Texte rund ums Archiv beziehungsweise Informationen zu Stolpersteinen.
Nach einem 20-minütigen Austausch mit 3 Personen aus der Hauptzielgruppe Leichter Sprache kristallisierten sich beim Thema Archiv folgende Interessenschwerpunkte heraus: Was ist ein Archiv? Wer arbeitet dort? Welche Tätigkeiten fallen dort an? Kann jeder in ein Archiv? Auch Menschen mit einer Behinderung? Was kann man dort machen? Wo gibt es Archive?
Ich beschloss daher, dem Kunden folgende Themen für Leichte-Sprache-Texte vorzuschlagen:
Was befindet sich in den staatlichen Archiven in Bayern?
Besuche in staatlichen Archiven
Für ein Brainstorming zum Thema Stolpersteine zeigte ich meinen Prüfer*innen mit einer geistigen Behinderung zunächst ein Foto von einem Stolperstein. Dabei stellte sich heraus, dass die Prüfer*innen schon Stolpersteine gesehen hatten. Sie wussten jedoch nicht, worum es sich dabei handelte. Gemeinsam legten wir für die künftigen Leichte-Sprache-Texte folgende Themen fest:
An wen erinnern die Stolpersteine?
Wer hatte die Idee für die Stolpersteine?
#2 Gemeinsames Schreiben mit der Zielgruppe Leichter Sprache
Nachdem ich mit Hauptzielgruppe und Auftraggeber Themen ausgewählt habe, schreibe ich selbst eine Erstfassung der Leichte-Sprache-Texte. Je nach Thema wäre es aber auch möglich, diese Erstfassung von Menschen mit einer geistigen Behinderung selbst schreiben zu lassen – allein oder im Team, mit oder ohne Anleitung. (Bei den meisten Redakteur*innen mit einer geistigen Behinderung wird eine Anleitung nötig sein.) Praktiziert habe ich dies noch nicht, weiß aber von einer Gruppe in der Oberpfalz, die eine solche Herangehensweise bereits erfolgreich ausprobiert hat.
Erfahrungen mit der Involvierung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beim Schreiben von leicht verständlichen Texten gibt es auch an der Gedenkstätte Opfer der Euthanasiemorde in Brandenburg an der Havel. Guides mit Lernschwierigkeiten führen durch die dortige Ausstellung. Die Texte für die Führungen wurden im inklusiven Team erarbeitet und dienten auch als Grundlage für die Website Geschichte inklusiv, die ich lektoriert habe. Sie ist in Leichter Sprache Plus verfasst.
#3 Prüfen von Leichte-Sprache-Texten
Beim Prüfen von Leichte-Sprache-Texten handelt es sich – wie oben schon erwähnt – um die verbreitetste Art, Menschen mit Lernschwierigkeiten bei der Entstehung von barrierefreien Texten einzubinden.
Große Unterschiede gibt es beim Prüfen, was Methoden und Zahl der Prüfer*innen betrifft. Manchmal lesen Prüfer*innen die Texte laut, mal leise. Mal werden die Texte von der Prüfassistenz beziehungsweise Prüfmoderation vorgelesen. Mal fassen die Prüfer*innen mit Lernschwierigkeiten den Inhalt der Texte eigenständig zusammen, mal werden Fragen gestellt.
Bei Zielgruppenprüfungen wird in Präsenz oder online gearbeitet. Je nach Gruppe haben Menschen mit Behinderung unterschiedliche Tools zur Verfügung: Papier und Stifte, Computer, Klebepunkte … Manche Moderator*innen integrieren Rollenspiele oder lassen Inhalte malen.
Prüfprozesse, welche die Hauptzielgruppe Leichter Sprache bei der Überprüfung von LS einbinden, sind bisher nicht reglementiert. Moderator*innen, oft die Übersetzer*innen oder Leichte-Sprache-Texter*innen, probieren aus, was für sie am besten funktioniert. Was ich beim Prüfen von LS-Texten von meiner Prüfgruppe gelernt habe, kannst du in diesem Blogartikel nachlesen: 9 Dinge, die ich von meiner Prüfgruppe als Leichte-Sprache-Texterin gelernt habe
#4 Prüfen von Leichte-Sprache-Bildern
Menschen mit einer geistigen Behinderung prüfen nicht nur den Text, sondern auch die Bilder, die den Leichte-Sprache-Text begleiten. Handelt es sich um Illustrationen von Bilddatenbanken können an den Bildern selbst keine Änderungen vorgenommen werden. Jedoch ist es möglich, Bilder auszutauschen.
Ideal ist, wenn die Bilder, die Texte in Leichter Sprache begleiten, von Zeichner*innen eigens für diese Texte erstellt werden. In diesem Fall können Prüfer*innen mit Lernschwierigkeiten intensiv bei der Entstehung von leichten Bildern beteiligt werden. Wie diese Zusammenarbeit funktionieren kann, können Leichte-Sprache-Übersetzer*innen und andere Interessierte einmal pro Monat beim Treffpunkt Leichte Bilder miterleben. Prüfer*innen nehmen hier Einfluss auf Farben, Motive, Platzierung der Bilder … Auch die Methoden zum Prüfen von leichten Bildern sind bisher nirgendwo festgelegt.
Leichte Bilder, die mit Zeichner und inklusivem Team entstanden sind, findest du ebenfalls in den Leichte-Sprache-Texten, die ich für die Staatlichen Archive Bayerns geschrieben habe. Dabei sind wir so vorgegangen: Gemeinsam mit dem Zeichner Maxime Ferré habe ich mir überlegt, was auf den Bildern zu sehen sein soll, um die Botschaft des jeweiligen Abschnitts zu vermitteln. Die Bilder sollten möglichst so verständlich sein, dass sie selbsterklärend waren, der Text in Leichter Sprache dazu nicht benötigt wurde. Anschließend habe ich den Prüfer*innen die Zeichnungen ohne Text vorgelegt und sie mir beschreiben lassen. Ob die Hauptbotschaft vermittelt wird oder nicht, war so ziemlich schnell klar. Wurde sie nicht vermittelt, haben wir gemeinsam mit der Zielgruppe Leichter Sprache überlegt: Was könnte man am Bild besser machen? Einmal tauschten wir zum Beispiel auf einer Zeichnung ein Smartphone gegen einen Fotoapparat aus, weil das Abfotografieren von Dokumenten mit Kamera besser veranschaulicht werden konnte.
#5 Hauptzielgruppe zeichnet leichte Bilder selbst
Eine weitere Möglichkeit, die Hauptzielgruppe Leichter Sprache bei der Entstehung von Texten miteinzubinden, ist, Menschen mit Behinderung die Bilder für Leichte-Sprache-Texte selbst zeichnen zu lassen. Eine solche inklusive Zeichengruppe leitet Illustratorin Simone Fass in Leipzig.
Im Sinne von „Nichts für uns ohne uns“ wäre wünschenswert, dass Vertreter*innen der Hauptzielgruppe Leichter Sprache an möglichsten vielen Etappen der Entstehung von LS-Texten beteiligt sind: bei der Auswahl von Themen beziehungsweise Schwerpunkten, beim Schreiben von Leichte-Sprache-Texten, bei der Erstellung von leichten Bildern …
Nicht immer ist jedoch möglich, die Zielgruppe bei verschiedenen Etappen einzubeziehen. Mal haben Auftraggeber recht genaue Vorstellungen, worum es in ihrem Text gehen soll. Oft fehlt die Zeit. Und oft auch die Menschen mit Lernschwierigkeiten, denn die wenigsten dürfen viel dazuverdienen oder sind in der Lage, Leichte-Sprache-Übersetzer*innen Rechnungen zu stellen.
Was die Mitarbeit betrifft, bleibt es daher häufig nur bei einer Etappe: dem Prüfen von Text und Illustrationen.