Warum Übersetzer*innen öfter telefonieren sollten
Wie viele wissen, arbeite ich als Übersetzerin in Leichte und Einfache Sprache hauptsächlich für Politiker*innen. Ich übersetze Wahlprogramme und anderes Material für den Wahlkampf. Obwohl ich dies erst seit 2019 anbiete, verfüge ich schon über einen recht großen Kund*innenstamm und schreibe regelmäßig für vier Parteien des linken Spektrums.
Da die nächsten Wahlen in ein paar Monaten anstehen, bin ich seit Wochen eifrig mit Akquise beschäftigt. Die ersten Aufträge für die Erstellung eines Kurzwahlprogramms in Einfacher oder Leichter Sprache sind auch schon eingegangen.
Vielen Dank für die Idee, unser Anbieter klaut sie gerne …
Wichtig ist bei der Akquise, permanent dranzubleiben und sich nicht zu scheuen, immer wieder nachzufragen, wenn man von einzelnen Orts- und Kreisverbänden nichts mehr hört.
Häufig führt das zum Erfolg, manchmal aber auch nicht. Gestern zum Beispiel erreichte mich in etwa folgende E-Mail:
“Sehr geehrte Frau Halbritter,
wir bedanken uns für Ihre Anregung. Wir hatten bisher nicht an Leichte und Einfache Sprache gedacht.
Wir werden jetzt dank Ihnen ein Wahlprogramm in Leichter und in Einfacher Sprache und auch einen Blog in Einfacher Sprache anbieten.
Anlässlich einer Sitzung mit unserer Werbeagentur haben wir das letzte Woche besprochen. Die Werbeagentur wird das aber selbst übernehmen, sich dazu einlesen und unsere Texte nach dieser Einlesephase anpassen.
Wir danken Ihnen für die Idee.
Mit freundlichen Grüßen”
Jeder Übersetzer, sei er nun im Bereich der barrierefreien Kommunikation unterwegs oder nicht, wird verstehen, dass es mich dabei fast vom Stuhl haute.
In Leichte oder Einfache Sprache liest man sich nicht schnell mal ein, da braucht es eine seriöse Ausbildung, wie zum Beispiel einen Master in barrierefreier Kommunikation oder ein Verständlichkeitstraining an der Universität gepaart mit einer mehrmonatigen Ausbildung durch das Netzwerk Leichte Sprache.
Raus aus der Schockstarre und Situation analysieren
Nachdem ich wieder aus meiner Schockstarre erwacht war, begann ich über die Situation nachzudenken:
Wie kam es, dass der Politiker seine Werbeagentur, die sich mal schnell einlesen wollte, als kompetenter erachtete als mich, die ich über ein Germanistikstudium und eine Ausbildung in Leichter Sprache verfüge?
Dem Ortsverband hatte ich mehrere von mir übersetzte Wahlprogramme zugeschickt. Hinzu kamen zahlreiche Links mit Informationen zu Wahlprogrammen in Leichter und stark vereinfachter Einfacher Sprache.
Beweise für meine Kompetenz waren übersandt worden und der Kunde hatte sie sich auch angeschaut. Durch meine Blogartikel war er auch überzeugt von dem Nutzen einer Übersetzung in Leichte und Einfache Sprache und wollte fortan mehr Wert auf barrierearme Kommunikation legen.
Warum hat sich der Kunde nicht für mich entschieden?
Was war mit diesem Kunden anders gelaufen als mit anderen Politiker*innen, die mich beauftragt hatten?
Der Hauptunterschied war mir ziemlich schnell klar: Mit allen anderen Kommunalpolitiker*innen, die größere Aufträge zu vergeben hatten, hatte ich mindestens 30 min telefoniert.
Ich hatte sie während des Telefongesprächs nach ihrer Zielgruppe gefragt, sie beraten, welches Programm das beste für sie sei: Leichte Sprache oder Einfache Sprache.
Ich hatte ihnen erklärt, welcher Grad der Vereinfachung für ihre Hauptzielgruppe nötig war und warum. Ich hatte sie auch darauf hingewiesen, warum die Erstellung eines leicht verständlichen Wahlprogramms ein recht kompliziertes Unterfangen war.
Außerdem hatten sie mir Fragen gestellt, was das Layout, die Gestaltung des Titelblatts usw. betraf.
Im Laufe dieser Telefongespräche hatte ich die Möglichkeit, wirklich von meiner Kompetenz zu überzeugen.
Meine Kompetenz spiegelte sich nicht nur auf einem Blatt Papier, sondern sie konnte hinterfragt werden und hielt diesen Fragen stand. Den Kund*innen wurde durch das Gespräch klar, dass ich mich wirklich in der Thematik auskannte und ich der Experte für barrierefreie Kommunikation war, den sie brauchten.
Und: Es war ein Kontakt von Mensch zu Mensch zustandegekommen, so etwas wie eine erste Bindung, bei der gut zu spüren war, dass man zusammenpasste.
Ein Telefongespräch trägt wesentlich zur erfolgreichen Akquise bei
Mit dem Kunden, der mir die E-Mail geschickt hatte, hatte ich dagegen nur schriftlichen Kontakt.
Vermutlich arbeitete er auch schon seit Jahren mit jener Werbeagentur, die sich einlesen wollte, zusammen und war mit der Zusammenarbeit recht zufrieden. Daher besprach er meine schriftlichen Vorschläge auch zunächst mit der Agentur und kam dann erst wieder auf mich zurück. Frei nach dem Motto: “Was haltet ihr davon? Könnt ihr das auch?” Um den Kunden nicht zu verlieren, bejahte man das natürlich. Und der Kunde vertraute.
Fazit: Übersetzer*innen sollten öfter das Telefon benutzen
Für den Abschluss größerer Verträge ist ein Kontakt nötig, der über das Schriftliche hinausgeht. Nur so kannst du potenziellen Kund*innen überzeugend vermitteln,
- dass du mehr zu bieten hast als andere,
- warum du als freiberuflich tätiger Übersetzer besser bist als irgendeine Agentur,
- über welches Wissen und welche Ausbildung du verfügst,
- was für ein Plus an Service du bieten kannst.
Den Politiker*innen, die ich an der Strippe hatte, konnte ich erfolgreich vermitteln,
- dass ich zu den wenigen Anbietern in Leichter Sprache zähle, die sowohl über eine akademische als auch über eine Ausbildung durch das Netzwerk Leichte Sprache verfügen,
- dass ich darüber hinaus auch Texte in Einfacher Sprache und in stark vereinfachter Einfacher Sprache anbieten kann, die sich an eine sehr breite Zielgruppe richten,
- dass ich mit Grafikern und Zeichnern zusammenarbeite, die ebenfalls auf Barrierefreiheit spezialisiert sind,
- dass ich im Gegensatz zu anderen Anbietern im Bereich der barrierefreien Kommunikation keinen Bauchladen vor mir hertrage, sondern wirklich auf Wahlprogramme spezialisiert bin,
- dass ich eine eigene Prüfgruppe einbinden kann, was der Werbeagentur nicht möglich sein wird.
Darum, liebe Kolleg*innen, greift bei Aufträgen, die ihr unbedingt haben wollt, immer zum Telefon! Und weil der Titel Warum Übersetzer*innen zum Hörer greifen sollten hieß:
Auch andere Dinge im Kontakt mit Kund*innen lassen sich im persönlichen Gespräch wesentlich besser klären als per E-Mail.
Fotos: Pixabay
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