In diesem Round-up mit Inklusions-Aktivist*innen und anderen Menschen, die sich für Teilhabe und Barrierefreiheit einsetzen, habe ich gefragt: Was ist dein größter Wunsch an die Politik?
Und natürlich verrate ich dir auch mein ganz persönliches Anliegen als Übersetzerin in Leichte und Einfache Sprache.
11 wichtige Wünsche von Inklusions-Aktivist*innen an die Politik
#1 Inklusions-Aktivist Lukas: Schulabschluss für alle und Mindestlohn in WfbM
Lukas Krämer, 27 Jahre, Inklusions-Aktivist, Youtuber zum Thema Behinderung, Fotograf und ehemaliger Mitarbeiter von Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen:
“Mein größter Wunsch im Bereich Teilhabe ist eine gute schulische Bildung für alle. Als Inklusions-Aktivist setze ich mich dafür ein, dass alle Menschen in einer normalen Schule unterrichtet werden: Menschen ohne Behinderung und Menschen mit Behinderung. Egal, ob die Menschen eine geistige oder eine körperliche Behinderung haben. Alle sollen am normalen Unterricht teilnehmen können. Ein guter Bildungsstand ist für alle wichtig, ein Schulabschluss auch.
#2 Mindestlohn in Werkstätten für behinderte Menschen
Mein zweiter großer Wunsch als Inklusions-Aktivist hängt damit zusammen. Als Aktivist im Bereich Inklusion möchte ich, dass möglichst viele Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Das klappt oft nicht, weil sie keinen guten schulischen Bildungsstand und keinen Schulabschluss haben. Deswegen arbeiten viele Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM).
In Werkstätten bekommen die Menschen aber nur ein Taschengeld. Pro Stunde zahlt man Menschen mit Behinderung in einer Behindertenwerkstatt 1,35 €. Im Monat kommen da nur zwischen 150 € und 250 € zusammen. Ein Hungerlohn! Dafür arbeiten die Menschen 35 bis 40 Stunden pro Woche. Ich will, dass alle Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, den Mindestlohn bekommen. Deswegen habe ich eine Petition gestartet. Sie bleibt so lange online, bis sie erfolgreich ist.
Menschen mit einer geistigen Behinderung können lernen. Man muss sie nur fördern. Meine geistige Behinderung – ich bin mit 4 Jahren an Meningitis erkrankt – ist mittlerweile ausgeheilt. Ich lerne jetzt sogar Japanisch.”
Wer die Petition des Inklusions-Aktivisten Lukas unterstützen will, kann dies hier tun: Petition Mindestlohn für Menschen in WfBM. Der Youtube-Kanal von Lukas heißt SakulTalks.
#3 Inklusions-Aktivistin Laura: Bezieht uns mit ein
Laura Mench ist 24 Jahre und von einer neuromuskulären Erkrankung betroffen. Ihre Brötchen verdient Laura als freiberufliche Peer-Dozentin, Inklusions-Coach und Journalistin. Auf ihrem Blog Projekt Leben aktiv kämpft die junge Inklusions-Aktivistin für mehr Rechte für Menschen mit Behinderung.
“Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung schon von vornherein in die Gesetzgebung mit einbezogen und mitgedacht werden müssen. Zum Beispiel bei der Impf-Priorisierung hätte der Gesetzgeber schon zu Beginn Einzelfallentscheidungen zulassen oder gar Menschen mit Behinderungen/chronischer Erkrankung in die Priorisierung aufnehmen müssen.
Jedem müsste eigentlich klar sein, dass sich das Coronavirus nicht an vorgeschriebene Diagnosen und Altersangaben hält, sondern vor allem die befällt, die nicht in der Lage sind, sich vollständig zu isolieren, weil sie auf Assistenz oder Pflege angewiesen sind. So wie hier, werden Menschen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung, sehr oft in der Gesetzgebung vergessen.
Auch in Zukunft wird es Gesetze geben müssen, die den Infektionsschutz oder auch anderen Gesundheitsthemen dienen. Personen, die persönlich, live am Geschehen sind oder stark von einem Geschehen gefährdet sind, haben oftmals die besten Voraussetzungen, um gute Lösungen zu finden.
Deshalb: Bezieht uns mit ein! Denkt uns mit!”
#4 Inklusions-Aktivist Raul: Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft
Raul Krauthausen ist studierter Kommunikationswirt, Inklusions-Aktivist, ausgebildeter Telefonseelsorger und Gründer der Sozialhelden, deren Projekte und Visionen er nach außen vertritt. Er engagiert sich leidenschaftlich als Multiplikator und wurde 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
“Ich träume von einer Gesellschaft, in der alle Menschen ihren Bedürfnissen selbstständig nachgehen können und nicht aufgrund körperlicher und medizinischer Merkmale ausgeschlossen sind.
Die fehlende Barrierefreiheit muss endlich als das wahrgenommen werden, was es ist: eine aktive Entscheidung zum Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus vielen unserer Lebensbereiche.
Der Staat hat sich in den letzten Jahren einige Regeln auferlegt, um Barrieren im eigenen unmittelbaren Wirkungskreis abzubauen. Nahezu unreguliert ist aber der private Sektor. Stattdessen können wir teilweise sogar eine Zunahme von Barrieren beobachten, zum Beispiel bei Medienkonsum, der Digitalisierung und Dienstleistungen.
Von Politiker*innen wünsche ich mir als Inklusions-Aktivist ein allgemeines Barrierefreiheitsgesetz. Damit soll die Privatwirtschaft zur generellen Barrierefreiheit verpflichtet werden und Grundsätze aufgestellt werden, was darunter zu verstehen ist und wie mit Verstößen gegen diese Regelungen verfahren wird. Barrierefreiheit muss, genauso wie sicherheitsrelevante Themen wie Brandschutz, nicht als Option oder Extra angesehen werden, sondern als verpflichtender und weiterzuentwickelnder Standard.”
Legendär ist auch Rauls wöchentlicher Newsletter auf Deutsch und Englisch zu Barrierefreiheit. Du kannst ihn auf seiner Seite abonnieren.
#5 Inklusions-Aktivistin Dagmar: Politik als Vorbild für eine inklusive Gesellschaft
Inklusions-Botschafterin Dagmar T. ist Begründerin von Blindleben.de und spät erblindet. Einblicke in die Belange benachteiligter Menschen, die in ihrer Teilhabe behindert werden, gewinnt sie auch durch ihre Arbeit als Psychologische Beraterin.
“Mein Wunsch als Inklusions-Aktivistin an die Politik: Seien Sie Leit- und Vorbild für eine inklusive Gesellschaft. Alle Menschen haben das Recht der Teilhabe. Jederzeit und überall. Menschen mit einer Beeinträchtigung gehören dazu. Sie sind grundsätzlich gleichberechtigter Teil der Gesellschaft, sie müssen nicht erst gnädig, aus gutem Willen irgendwann einmal ‘integriert’ werden.
Sie sind bereits Teil der Gesellschaft – mit allen Rechten. Berücksichtigen und vertreten Sie dies in Ihrem politischen Wirken. Inklusion ist ein Menschenrecht. Die Rechte beeinträchtigter Menschen sind bei jeder Vorgabe und jeder Gesetzgebung grundlegend zu berücksichtigen.”
#6 Flächendeckendes barrierefreies Nahverkehrsangebot
Das Team von BBS und Blindleben, zu dem auch Dagmar T. gehört, setzt sich für Barrierefreiheit auf Social Media ein. Auf Twitter ist das Team aus blinden, sehbeeinträchtigten und sehenden Menschen unter @meinAugenlicht vertreten und informiert zum barrierefreien Posten.
“Barrierefreie Wege im Internet sind uns sehr wichtig und wir unterstützen dieses Anliegen mit unserer Expertise.
Wir wünschen uns auch ein flächendeckendes, barrierefreies, verlässliches, dauerhaftes Nahverkehrsangebot. Wir fordern Politiker*innen auf: Sorgen Sie für ein umfassendes Nahverkehrsnetz.
Alle Wege müssen von allen Menschen selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar sein. Besonders Menschen, die durch eine Beeinträchtigung auf eine verlässliche Infrastruktur angewiesen sind, brauchen jederzeit ein umfassend barrierefreies Angebot.
Eingeübte Wege und Fahrtstrecken können nicht ständig neu erstellt werden. Eine Wegstrecke und deren Bedingungen sollte immerwährend, streckendeckend, gleichbleibend barrierefrei sein. Eine Neuorientierung ist mühevoll oder nicht zu bewerkstelligen. Nur so ist es möglich, sich ohne Hilfe verlässlich orientieren zu können, und sich auch jederzeit wieder barrierefrei und angstfrei auf den bekannten unveränderten Weg zu begeben.
Gerade ungeübte, sehbeeinträchtigte Menschen können sich nicht gut auf Veränderungen einstellen und sich zurechtfinden, wenn sich die Wegestrecke immer wieder verändert darstellt.
Außerdem fehlen die barrierefreien Anschlusswege an vorhandene Infrastruktur. Es nützt nichts, wenn man eine barrierefreie Verkehrsverbindung nicht barrierefrei erreichen kann. Hier brauchen wir Inklusion. Hier besteht Handlungsbedarf der Politik.”
#7 Barrierefreiheits-Experte Martin: bauliche Barrierefreiheit verbindlich festlegen
Aufgrund einer plötzlich aufgetretenen Autoimmunerkrankung musste sich Martin Schienbein früh mit Stolperfallen beschäftigen. Heute ist er freiberuflicher Fachplaner für barrierefreies Bauen in Berlin, optimiert bestehende Baupläne im Hinblick auf Barrierefreiheit und hält Vorträge und Schulungen.
“Während Boden- oder Brandschutzgutachten aufgrund ihrer Komplexität an spezialisierte Fachplanungs-Büros ausgelagert werden, wird Barrierefreiheit oft mehr schlecht als recht nebenher ‘mitgemacht’. Erfreulicherweise wird jedoch mittlerweile in vielen Bundesländern für öffentliche Gebäude eine fachlich fundierte Betrachtung des Themas als sogenanntes Barrierefrei-Konzept gefordert. Diese Forderung sollte bundesweit in die Landesbauordnungen übernommen und hinsichtlich ihres Umfangs definiert werden. Aktuell wissen nämlich weder Planende noch Prüfende, was damit überhaupt gemeint ist.
Es ist auch an der Zeit, im Zuge der ohnehin anstehenden Überarbeitung der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) die Leistungen des barrierefreien Bauens als gesondertes Leistungsbild mit aufzunehmen.
Barrierefreiheit ist genauso wichtig wie Bauphysik, Geotechnik oder Vermessung. Gerade bei öffentlich zugänglichen Gebäuden gehört die Planung der Barrierefreiheit in fachkundige Hände, um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen wirklich sicherzustellen. Barrierefreiheit ist zu wichtig, um als Randbemerkung in der Planung von generalisierten Architekt*innen und anderen Planenden unterzugehen.”
Martin sensibilisiert auch mit einem eigenen Podcast für Barrierefreiheit. Hör doch einfach mal rein!
#8 Inklusions-Aktivistin Sybille: WbfM als durchlässige Einrichtungen in der Mitte der Gesellschaft
Als Mutter einer erwachsenen Tochter mit kognitiven Einschränkungen engagiert sich die selbstständige Kosmetikerin Sibylle Madadkar als Vorsitzende der Traumwerker e. V. und im Behindertenbeirat des Landkreises München.
“Statt auf den Bewusstseinswandel in Gesellschaft und Wirtschaft zu warten, sollten Politiker*innen jetzt Inklusion dort wagen, wo immer noch institutionell wohl gemeinte Fürsorge statt gleichberechtigter Teilhabe stattfindet.
Förder- und Sondereinrichtungen sollten zu Modellprojekten für Inklusion werden, offene und durchlässige Einrichtungen in der Mitte der Gesellschaft sein.
Damit individuelle Förderung und Wissenstransfer für alle Kinder möglich sind, muss es in den Förderschulen zur Entwicklung entsprechender Konzepte kommen. Alle Begabungen sind wichtig, um mit- und voneinander zu lernen.
In den Werkstätten sollten mit sozialpädagogischer und mit wirtschaftlicher Kompetenz wegweisende und innovative Konzepte für die freie Wirtschaft entwickelt werden von denen dann alle profitieren.
Alle Menschen brauchen attraktive Arbeits- und Förderangebote. Für eine wirklich leistungsfähige und zukunftsfähige Gesellschaft ist es wichtig, alle mitzunehmen und auf niemanden zu verzichten.
Inklusion zu Ende gedacht bedeutet, jedem Menschen gleichberechtigt die Chance zu geben, Teil der Gesellschaft zu sein und sein Bestes zu geben: den Menschen mit Hochbegabung wie den Menschen mit Behinderung.”
#9 Inklusions-Aktivistin Tanja: barrierefreie Beratungsstellen für Frauen und nicht-binäre Menschen
Tanja Kollodzieyski lebt und arbeitet in Bochum. Sie hat einen Master in Allgemeiner Literaturwissenschaft und Germanistik. Online arbeitet die Inklusions-Aktivistin mit Menschen und sozialen Netzwerken. Offline hält sie Vorträge über Inklusion und intersektionalen Feminismus.
“Wir brauchen mehr barrierefreie Beratungsstellen für gewaltbetroffene Frauen, Mädchen und nonbinäre Menschen mit Behinderung und gleichzeitig mehr barrierefreie Räume, wo Frauen, Mädchen und nonbinäre Menschen sich gegenseitig stärken können.
Auf der einen Seite zeigen Statistiken und Studien immer wieder, dass besonders Frauen und Mädchen mit Behinderung stärker als die meisten anderen Gruppen von Gewalt und Diskrimierungen betroffen sind. Und trotzdem gibt es kaum barrierefreie Hilfe- und Beratungsstrukturen. Als Inklusions-Aktivistin sage ich: Es ist wichtig, dass wir uns hierbei nicht täuschen zu lassen: Barrierefreiheit bedeutet nicht nur Rampen und Aufzüge, sondern zum Beispiel auch Angebote mit Untertiteln, Gebärdensprache und Leichte Sprache.
Gleichzeitig darf Barrierefreiheit nicht nur Schutz bedeuten. Barrierefreiheit muss auch Möglichkeiten einrichten, präventiv Verbindungen zu stärken und eigenes Handeln zu erleben, um Mädchen und Frauen vor und in Gefahrensituationen mehr Handlungsfreiheit zu eröffnen. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass wir auch Freizeit-, Kultur- und Sportangebote schaffen müssen, die dieses Erleben ermöglichen.”
#10 Übersetzerin Andrea: mehr politische Teilhabe durch leicht verständliche Wahlprogramme
Ich, Andrea Halbritter, habe ein 2. Staatsexamen in Germanistik, bin vom Netzwerk Leichte Sprache e. V. zertifiziert und erstelle Texte in Leichter und Einfacher Sprache. Außerdem halte ich Vorträge und Fortbildungen zu barrierearmer Kommunikation.
“Ich bin ein sehr politischer Mensch und möchte als solcher, dass politische Teilhabe wirklich allen möglich ist: Menschen mit einer geistigen Behinderung, Personen, die sich mit dem Lesen schwer tun, die aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls kein ‘schweres Deutsch’ verstehen, Migrant*innen … Mein zentraler Wunsch an die Politik sind daher mehr Parteiprogramme und Wahlprogramme in Leichter und Einfacher Sprache.
Selbst wenn immer mehr Parteien leicht verständliche Wahlprogramme anbieten, gibt es – insbesondere bei Kommunalwahlen – noch zahlreiche Orts- und Kreisverbände, die weder ein Programm in Leichter Sprache noch ein Programm in Einfacher Sprache zur Verfügung stellen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche sind nicht sensibilisiert, anderen fehlt das nötige Kleingeld. Wiederum andere weigern sich aus Überzeugung und das auch bei Landtags- und Bundestagswahlen.
Barrierearme Wahlprogramme anzubieten sollte obligatorisch werden. In Deutschland gilt seit Mai 2019 ein inklusives Wahlrecht. Und das ist gut so! Doch nur wer sich informieren kann, kann entscheiden. Parteien sollten dafür sorgen, dass politische Teilhabe jedem Einzelnen möglich ist: Menschen mit einer Behinderung und ohne, Menschen, deren Muttersprache Deutsch ist, und Menschen, die nur über reduzierte Kenntnisse des Deutschen verfügen, weil sie zum Beispiel erst seit kurzem Deutsch lernen. Menschen, die sehr flüssig lesen, und Menschen, die sich mit dem Lesen schwer tun.
#11 Mehr Fördertöpfe für Leichte Sprache
Die Mittel hierfür sollten kleineren Parteien, Kreis- und Ortsverbänden zur Verfügung gestellt werden. Und zwar nicht nur für Wahlprogramme in Leichter und Einfacher Sprache, sondern auch in Gebärdensprache.
Insgesamt braucht Leichte Sprache viel mehr Fördertöpfe: für mehr politische und kulturelle Teilhabe, für inklusiven Sport und leicht verständliche Infos im Gesundheitsbereich.
Fotos: © Andrea Halbritter und die Inklusions-Aktivist*innen des Round-ups