Vor etwa zwei Wochen bekam ich einen Anruf von einer Übersetzungsagentur, die auf der Suche nach einer Leichte-Sprache-Übersetzerin war. Als ich nachfragte, ob die Projektmanagerin bereits Erfahrung mit barrierefreier Kommunikation habe, teilte mir diese mit: “Nein, wir haben keine Erfahrung mit Leichter Sprache. Wir bieten bisher nur Übersetzungen in Fremdsprachen an. Wir wissen auch gar nicht genau, was Leichte Sprache ist. Aber wir sehen immer wieder große Ausschreibungen von Behörden, die Texte in Leichter Sprache benötigen, und da haben wir uns gedacht: ‘Von dem Kuchen hätten wir gern auch ein Stück!’”
Ein Gespräch, das mich grübeln ließ: über Umtüter, die ihren Kund*innen zu keinerlei Mehrwert verhelfen, sondern einfach nur weiterschicken, was sie von ihren Spezialist*innen bekommen, ohne auch nur einen Hauch von Ahnung vom Metier zu haben. Und über Kuchen und Leichte Sprache. Und Leichte Sprache und Kuchen. Und darüber, was beide miteinander zu tun haben:
Was Leichte Sprache und Kuchen gemeinsam haben
#1 Beides gibt es in der Amateur- und in der Profiversion
Kuchen und Leichte Sprache gibt es in der Amateur- und in der Profiversion: Die meisten Menschen backen ab und zu mal Kuchen, zum Beispiel wenn die Oma am Wochenende zu Besuch kommt, das Kind Geburtstag hat oder ihnen der Sinn nach etwas Süßem steht. Das Backen von Kuchen haben sie von Mutti, bei einem Kurs an der Volkshochschule oder im Selbstversuch erlernt.
Daneben gibt es Bäcker*innen und Konditor*innen, deren Metier das Kuchenbacken ist. Jene haben das Kuchenbacken jahrelang gelernt.
Schaut man sich die heterogene Gruppe an Leichte-Sprache-Übersetzer*innen an, finden sich auch darunter Expert*innen, die das Erstellen von Leichte-Sprache-Texten im Rahmen einer universitären oder längeren inklusiven Ausbildung erlernt haben. Andere dagegen haben nur einen Wochenendkurs belegt oder sich die Regeln zum Verfassen von Texten in Leichter Sprache angelesen. Ebenso gibt es einige wenige Agenturen, die auf Leichte Sprache spezialisiert sind und die sich mit Leichter Sprache gut auskennen, sowie zunehmend andere Agenturen, die einfach nur “ihr Stück vom Kuchen” haben möchten.
#2 Beide gibt es in unterschiedlichen Ausführungen
Das Angebot an Kuchen ist unfassbar groß. In deutschen Konditoreien tummeln sich Kastenkuchen, Obstkuchen, Cremetorten, Sahnetorten, Biskuitkuchen, Kuchen mit Rühr- und Blätterteig … Selbst wenn es für Leichte Sprache mehrere sehr ähnliche Regelwerke gibt, ähnelt kein Leichte-Sprache-Text dem anderen. Dies liegt nicht nur daran, dass es unter Leichte-Sprache-Übersetzer*innen Amateur*innen und Profis gibt. Für die Übersetzung eines standarddeutschen Textes gibt es schlicht und ergreifend nicht DIE Lösung. Möglich sind vielmehr viele verschiedene, leicht verständliche Lösungen.
#3 Kuchen und Leichte Sprache wollen “verziert” werden
Kuchen schmücken sich mit Glasuren, Streuseln, Obststückchen, Sahne … Leichte-Sprache-Texte schmücken sich auch: mit Illustrationen. Die Illustrationen haben jedoch nur auf den ersten Blick eine schmückende, verzierende Funktion. Ihre Aufgabe ist es, den Leser*innen zu helfen, die Botschaft des Leichte-Sprache-Textes zu verstehen.
#4 Die Preise für Kuchen und Leichte Sprache variieren
Die Preise für Kuchen und Torten variieren stark – je nachdem, wo man sie einkauft: in einer Konditorei, auf einem bekannten Platz einer deutschen Großstadt, auf dem Land in einem Dorfcafé, im Supermarkt als Tiefkühlware … Ein Stück Marmorkuchen kostet weniger als ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte, ein Industrieprodukt ist günstiger als die Leckerei aus der Konditorei, die von Teig über Füllung und Glasur alles selbst herstellt.
Genauso verhält es sich mit Leichter Sprache. Während manche Übersetzer*innen 30 € pro Stunde berechnen, liegen andere bei über 100 €.
Abhängig ist der Preis eines Leichte-Sprache-Textes nicht zuletzt auch von der Art der Illustrationen. Eigens für die Auftraggeber*innen erstellte Bilder kosten wesentlich mehr als Bilder von einer Bilddatenbank. Eine große Prüfgruppe ist meist teurer als eine kleine. Prüfer*innen auf dem ersten Arbeitsmarkt kosten in der Regel mehr als Prüfer*innen, die in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung tätig sind.
Bei Leichter Sprache gibt es also auch einfache, günstige Marmorkuchen und aufwändig gearbeitete, teurere Torten.
#5 Leichte Sprache und Kuchen sind oft ein Gemeinschaftsprojekt
Gute Leichte Sprache entsteht im Team. Beteiligt sind an einem Text in Leichter Sprache bis zu 10 Personen: ein*e Übersetzer*in, eine Prüfgruppe mit Prüfassistenz, ein*e Grafiker*in, ein*e Zeichner*in.
In einer Konditorei arbeiten in der Regel auch mehrere Menschen an einem Kuchen bzw. einer Torte: Es gibt den Obstposten, den Sahneposten, den Rührposten, den Ofenposten …
#6 Die Dauer der Herstellung ist unterschiedlich lang
Für die Herstellung einer mehrstöckigen Sahnetorte ist mehr Zeit nötig als für einen einfachen Kastenkuchen. Auch die Übersetzung von standarddeutschen Texten in Leichte Sprache benötigt unterschiedlich viel Zeit. Häufig muss erst einmal ein Konzept erstellt werden. In Abstimmung mit den Kund*innen müssen Übersetzer*innen auswählen, welche Inhalte im Leichte-Sprache-Text vorhanden sein müssen und was weggelassen werden kann. Da die Ausgangstexte in ihrer Komplexität verschieden sind, nimmt auch die Übersetzung mehr oder weniger Zeit in Anspruch. Bilder sind schneller aus einer Bilddatenbank ausgewählt als eigens für den Text erstellt.
#7 Leichte Sprache und Kuchen sind für viele Menschen da
Die “Zielgruppen” von Kuchen und Leichter Sprache sind sehr groß: Die meisten Menschen mögen Kuchen. Die Leute, die nie Kuchen essen, dürften in der absoluten Minderheit sein. Was Leichte Sprache betrifft, geht man davon aus, dass etwa 20 Millionen Menschen in Deutschland Leichte oder stark vereinfachte Einfache Sprache benötigen. Weder die Zielgruppe von Kuchen noch die von Leichter Sprache sind besonders homogen. Kuchen ist bei Alt und Jung, bei allen Geschlechtern, bei Menschen mit und ohne Behinderung beliebt … Leichte Sprache kann Menschen mit einer geistigen Behinderung, mit prälingualer Hörschädigung, mit geringen Deutschkenntnissen sowie Menschen mit bestimmten Erkrankungen helfen, Texte besser zu verstehen.
#8 Manche Menschen reagieren darauf allergisch
Genauso wie manche Menschen auf bestimmte Zutaten von Kuchen allergisch reagieren — man denke nur an Haselnüsse, Milchprodukte oder Weizen –, entwickeln andere eine Aversion gegen Leichte Sprache. Wird Leichte Sprache abgelehnt, sind der Grund häufig Vorurteile.
#9 Die Erwartungen werden nicht immer erfüllt
Manchmal sehen Kuchen schöner aus, als sie schmecken. Vor Weihnachten zum Beispiel brachte meine Tochter ein herrliches Stück Torte mit. Nach der ersten Gabel stand unser Urteil fest: Es war ungenießbar. Zu viel Alkohol und zu viel Zimt. Dabei mag ich Zimt! Genauso verhält es sich bisweilen mit Leichte-Sprache-Texten. Manche versprechen Barrierefreiheit, sind aber nicht leicht verständlich. Beim Durchlesen stolpert man über Passivkonstruktionen, über Genitive, schwere Wörter und Nebensätze und merkt ziemlich schnell, dass man einen Text vor sich hat, der für die Zielgruppen Leichter Sprache ungenießbar ist.
#10 Roboter und Maschinen im Einsatz
In Großkonditoreien kommen immer mehr Maschinen und Roboter zum Einsatz. Maschinen machen auch vor Leichter Sprache nicht Halt. So arbeiten verschiedene Wissenschaftler*innen an KI-gestützter Schreibassistenz.
#11 Manchmal wird beides weiterverkauft
Manche Restaurants stellen ihre Kuchen nicht mehr selbst her, sondern kaufen sie anderswo ein. Ebenso verhält es sich mit Leichter Sprache. Inzwischen gibt es einige Übersetzungsagenturen und Leichte-Sprache-Büros, die entweder einen Teil oder aber ihre komplette Arbeit outsourcen. So wie das Restaurant seine Torten von einer Konditorei liefern lässt, vergeben manche Agenturen Aufträge an Freiberufler*innen. Sie selbst befassen sich – wie unser Umtüter zu Beginn des Artikels – nur noch mit Akquise.
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