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4 Punkte, die du über Autismus und Sprache wissen solltest

Drei Holzplättchen im Sand: auf dem 1. Plättchen eine Sonne, auf dem 2. ein Pfeil nach rechts, auf dem 3. ein zufriedener Smiley

In der letzten Zeit haben immer wieder Leser*innen meines Blogs gefragt: Brauchen Menschen aus dem Autismusspektrum Leichte Sprache? Was gibt es in Bezug auf Kommunikation, Sprache und Autismus zu beachten? In diesem Round-up mit Betroffenen, Coaches und Barrierefreiheitsexpert*innen erfährst du, was du über Autismus und Sprache wissen solltest:

Autismus(spektrum) und Sprache

#1 Autismus und Humor

Florian Malicke

Florian: “Humor ist vielfältig.”

Florian Malicke bietet im gesamten DACH-Raum Autismus-Coaching an. Der in Hanau ansässige Freiberufler ist auch als Keynote-Speaker zu den Themen Neurodiversität und Inklusion in Unternehmen zu buchen.

Treffen sich zwei Autisten. Beide halten das gleiche Buch in der Hand. Sagt der eine: “Seite 47.” Der andere lacht.

Dies ist ein klassisches Beispiel, wie autistischer Humor entstehen kann. Autismus prägt nicht nur das Verhalten, sondern auch die Art, wie Menschen Witze verstehen und teilen. Autistische Menschen neigen dazu, Muster und Strukturen in ihrer Umgebung besonders intensiv wahrzunehmen. In diesem humorvollen Austausch zeigt sich eine Freude an der Präzision und Logik, die für viele Autist*innen typisch ist – eine Stärke, die oft mit dem Autismus-Spektrum in Verbindung gebracht wird. Die Pointe liegt nicht nur im Witz selbst, sondern auch in der Fähigkeit, subtile Muster zu erkennen oder wie in dem oben genannten Beispiel (das sich tatsächlich so zugetragen hat), zu wissen, welcher Witz sich auf Seite 47 befindet.

Aber gibt es einen ganz speziellen, nur Autist*innen eigenen Humor? Autismus-Humor kann so vielfältig wie das gesamte Spektrum sein, von Wortspielen über absurde Situationen bis hin zu einer besonderen Vorliebe für Details. Ironie und Sarkasmus sind nicht immer sofort verständlich, aber Autist*innen entwickeln oft einen einzigartigen Sinn für Humor, der sich auf ihre individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen stützt. Ein Beispiel hierfür ist der bekannte Schauspieler und Comedian Dan Aykroyd (Blues Brothers). Er hat seine Autismus-Diagnose vor einigen Jahren öffentlich gemacht. Sein Spezialinteresse und seine Faszination für Geister und Geisterjäger verarbeitete er künstlerisch in der Komödie Ghostbusters.

In meiner Arbeit mit autistischen Menschen und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man abseits der häufig auftretenden Schwierigkeiten, was Ironie und Sarkasmus angeht, nicht von „dem“ Autismus-Humor sprechen kann. Die Vorlieben gehen von Slapstick über Wortspiele von Otto oder Heinz Erhardt bis hin zu britischem Humor à la Monty Python. Humor ist also genauso vielfältig, wie die Menschen selbst.

 

#2 Bildhafte Sprache und indirekte Kommunikation

Übersetzerin Andrea Halbritter

Andrea: “Bildhafte Sprache wird wörtlich verstanden.”

Andrea Halbritter ist vom Netzwerk Leichte Sprache e.V. zertifiziert. Sie schreibt vor allem für Gedenkstätten, Museen, Parteien des linken Spektrums und Gesundheitsbehörden Texte in Leichter und Einfacher Sprache.

“Bind mir keinen Bären auf!” “Mach doch nicht aus jeder Mücke einen Elefanten!” “Das bringt mich auf die Palme!” “Hast du noch alle Tassen im Schrank?” Menschen aus dem Autismusspektrum verstehen bildhafte Sprache oft wörtlich. Was hinter Redewendungen oder Sprichwörtern steckt, bleibt vielen Autist*innen zunächst verborgen. Nicht selten sorgen Formulierungen, wie “jemanden an der Nase herumführen”, “jemandem einen Bären aufbinden”, “Tomaten auf den Augen haben” oder “die Katze im Sack kaufen”, für Belustigung. Stellt man sich verschiedene Redewendungen wörtlich vor, sind deren Bilder ja auch amüsant. Wer läuft schon mit Tomaten auf den Augen herum oder hat Karotten in den Ohren? Nach einer Erklärung verstehen Autist*innen, was gemeint ist, aber nicht ohne. Menschen aus dem Autismusspektrum interpretieren die Bedeutung von bildhaften Ausdrücken nämlich nicht automatisch. Haben Autist*innen aber gelernt, was bildhafte Redewendungen aussagen, verwenden sie diese auch selbst.

Brauchen Autist*innen Leichte Sprache? Viele Autist*innen benötigen keine Leichte Sprache. Für andere kann Leichte Sprache hilfreich sein. Insbesondere Asperger-Autist*innen verfügen über einen großen Wortschatz und drücken sich grammatikalisch korrekt aus. Der IQ von vielen Asperger-Autist*innen ist hoch, einige sind hochbegabt. Die kleinschrittigen Erklärungen, welche die primäre Adressatengruppe Leichter Sprache braucht, benötigen sie nicht.

Neben bildhafter Sprache bereitet aber auch Asperger-Autist*innen indirekte Kommunikation Schwierigkeiten. Der Satz “Mir ist kalt” ist für Autist*innen keine Aufforderung, das Fenster zu schließen. Er bedeutet einfach: Die Person friert. Mit einer Handlungsaufforderung ist er nicht verknüpft. Erwartet man, dass das Fenster geschlossen wird, sollte man dies direkt äußern: “Kannst du bitte das Fenster zumachen? Mir ist kalt.” Weitere Tipps zum Thema Asperger und Kommunikation bekommst du zum Beispiel auf der Seite von Autismus Kultur.

 

 

#3 Autismus und geschlechtergerechte Sprache

Beccs Runge

Beccs: “Eine einheitliche, neutrale Form ist wünschenswert.”

Beccs Runge berät und

Sonderzeichen in der Sprache – wie gehen wir damit um, wenn unterschiedliche Bedürfnisse gleichzeitig vorhanden sind?  

Intersektionalität ist die Verschränkung unterschiedlicher Diskriminierungsformen. Die Bezeichnung geht auf die Arbeit Schwarzer Feminist*innen zurück. Sie sahen sich weder von weißem Feminismus, noch der Schwarzen, männlich dominierten Bürgerrechtsbewegung in ihren Kämpfen repräsentiert. 

Kurzer Exkurs, zurück zur heutigen Problematik der Intersektionalität. Auch die Verflechtungen von Ableismus, Sexismus, Trans- und Queerfeindlichkeit fallen darunter.  
Und da kommen wir zum Problem: Design und geschlechterneutrale Sprache. Autismus und Neurodivergenzen. 

Sprache schafft Realität – und bildet Realitäten ab. Unterschiedliche Studien haben bewiesen, dass das generische Maskulinum dazu führt, dass Lesende/Hörende ein männliches Bild im Kopf haben. Das verunsichtbart alle Personen, die nicht männlich sind. Es sorgt langfristig dafür, dass unsere Realität weiterhin eine männlich geprägte, männlich dominierte ist. (Und dafür, dass beispielsweise Mädchen eher Berufe als Wunschberuf angeben, die mit „Weiblichkeit“ assoziiert sind.)  

Geschlechterneutrale Sprache

Eine Lösung dafür können Partizipien (Lesende, Lernende, Hörende etc.) sein. Unterschiedliche Varianten des Entgeschlechtlichens – also beispielsweise Sonderzeichen oder Binnen-I. (Lehrer_innen, Lehrer*innen, LehrerInnen). Sonderzeichen wurden vor allem aus der trans Community heraus entwickelt und gefordert. Es geht um Sichtbarkeit von nichtbinären Personen (und die Einbeziehung dieser). Das Binnen-I kommt vor allem aus einer cis-feministischen Perspektive und war dazu gedacht, Frauen sichtbarer zu machen. Geschlechterneutrale Sprache hat also unterschiedliche Möglichkeiten. 

Klingt gut? Klingt gut. Bisschen ungewohnt, aber da gewöhnen sich Menschen nach und nach dran.  
Aber.  

Probleme 

Ich bin Autist_in. Autimus ist eine Neurodivergenz. Unser Gehirn arbeitet ein wenig anders als die Norm. Hast du schon mal versucht, ein Apple-Gerät mit einem Windows-Gerät zu verknüpfen? Genau. 

Viele Autisten, Autistinnen und Autist*innen haben das Problem, dass sie Sprache anders wahrnehmen. Wenn in einem Text (sehr viele) Sonderzeichen auftauchen, wird dieser Text für uns häufig schlecht bis un-lesbar. Das betrifft auch blinde und sehbehinderte Menschen. Screenreader sind Programme, die Schriftsprache in Lautsprache übersetzen. Gerade Screenreader können oft Sonderzeichen nicht adäquat (als Glottal Stop) übersetzen. Dadurch klingt ein Text dann so: Lehrer_innen wird zu LehrerUnterstrichInnen. Klingt anstrengend? Ist es auch.  

Screenreader sind eine technische Problematik. Technik ist lösbar. Die Gehirne neurodivergenter Menschen mit dieser Problematik sind nicht durch ein IT-Update behandelbar.  

Bedürfnisse 

Wir haben also zwei unterschiedliche Bedürfnisse, die sich konträr gegenüberstehen. Einerseits Sichtbarkeit (die zur Normalisierung führt), andererseits Lesbarkeit und Erfassbarkeit von Informationen. 

Ist eines dieser Bedürfnisse dadurch wichtiger als das andere? Ich denke nicht. Es ist eine komplexe und nicht individuelle Situation. Die Lösung muss eine gesellschaftliche sein. Unsichtbarkeit von nicht-männlichen Personen in der Sprache hat Konsequenzen auf das Leben dieser. Ausschließende Texte aufgrund von Unlesbarkeit haben Konsequenzen für Personen, die diese Texte nicht lesen können. 

Eine einheitliche, neutrale Form ist wünschenswert. Sowohl für Personen, die unter geschlechtlicher Diskriminierung leiden, als auch für alle, die unter Ableismus leiden. Und noch viel mehr für alle Personen, die von beidem betroffen sind. 

 

#4 Person first versus Identity first

Shino Me hilft Autist*innen, Bewerbungsgespräche vorzubereiten und allistisches Verhalten am Arbeitsplatz zu übersetzen. Unternehmen zeigt Shino, welche großartigen Vorteile sich durch autistische Mitarbeitende ergeben.

Sprache und die Sicht auf autistische Menschen hängen eng zusammen, denn Bezeichnungen sagen viel darüber aus, wie Autist*innen gesehen werden und sich selbst sehen: „von Autismus betroffen“, „trotz Autismus schaffte x das Abitur“, „leidet an/unter Autismus“, oder einfach „Autist*in“.
Jahrzehntelang stand eine rein defizitorientierte Sicht auf autistische Menschen im Vordergrund. Die Gesellschaft verortete mehr als 80 Millionen Menschen weltweit in einem Stereotyp-Gebilde zwischen Rain Man und dem nerdig-gefühlslosen Asperger Autisten, immer männlich und jedes IT-Problem in seinen dunklen Kellergewölben zwischen Pizza und Cola lösend.

Wie eingeschränkt der Blick auf autistische Menschen war und ist, zeigt die Notwendigkeit, darauf hinweisen zu müssen, dass Autist*innen individuell sind. Niemand käme auf die Idee, darauf hinzuweisen, dass allistische (non-autistische) Menschen unterschiedlich sind. Dass sie einzigartige Persönlichkeiten mit unterschiedliche Bedürfnissen, Fähigkeiten und Potenzialen sind. Individualität ist menschlich und von Geburt an existent – zumindest solange dieser Mensch Teil der neuronormativen Mehrheit ist. Bei autistischen Menschen verdeckte ein Defizit-Mantel, „der“ Autismus, jegliche Individualität.

Der Satz „Kennst du eine*n Autist*in, kennst du nur eine*n!“ gilt noch immer als das Nonplusultra des Wissens zu autistischen Menschen. Provokant gesagt, muss erklärt werden, dass sich mehr als 80 Millionen autistische Menschen weder ein Gehirn noch eine Persönlichkeit teilen. Sie sind *trommelwirbel* individuelle Persönlichkeiten. Langsam ändert sich die Sicht auf „den“ Autismus, den es so gar nicht gibt, denn wir sprechen von einer großen Breite an Fähigkeiten, Potenzialen und Ansprüchen für ein erfülltes Leben.

Noch immer füllen zu viele Berichte das Internet, in denen erklärt wird, dass Autist*innen etwas „trotz“ Autismus geschafft haben. Nicht die Diskriminierung, Dehumanisierung und allgewärtigen Stereotype sind das Problem, sondern einzig „der“ Autismus. Das gerade ein ATD (Attention to Detail) und deliberatives Denken einen Erfolg ermöglichen, scheint einigen undenkbar.

Da starke Autist*innen weltweit sichtbarer werden und endlich Respekt einfordern können, ändert vieles. Dazu gehört auch ein wachsender Respekt vor der Eigenbezeichnung autistischer Menschen. 2020 empfahl die APA (American Psychological Association) endlich, dass „Fachleute“ autistische
Menschen fragen sollten, welche Form der Ansprache sich diese bevorzugen. Eine starke autistische Community unter anderem in den USA fordert mehr Respekt vor der Vielfalt und dem Menschsein. So entstand eine Diskussion über Sprache. Wie definieren sich autistische Menschen?

„Mensch mit Autismus“ (person with autism) wird als PFL (Person First Language) bezeichnet, Autist*in (autistic person) als IFL (Identity First Language). Die Bezeichnung „Mensch mit“ entstand Ende der 1970er und sollte ein allgemeines Menschsein in den Vordergrund zu stellen „Autist*in“, um das neurologische Setting als Basis der individuellen Persönlichkeit zu sehen. Während Caregiver häufig den Begriff „Mensch mit Autismus“ wählen, bevorzugen immer mehr autistische Menschen „Autist*in“. Diese Wahl ist interessanterweise abhängig vom Land. So ist in den USA mit seiner selbstbewussten autistischen Community bei Umfragen die IFL stark ausgeprägt, während sich diese Bevorzugung in anderen Staaten gerade entwickelt. Dies hat sicherlich mit der Sprachbarriere und Teilhabe an Diskursen zu tun. Diskussionen auch innerhalb autistischer Communities sind nicht für alle Autist*innen erreichbar.

Ich persönlich nutze für mich die Selbstbezeichnung Autist und respektiere, wenn ein autistischer Mensch sich für „Mensch mit Autismus“ entscheidet. Was ich nicht akzeptiere, ist, dass allistischeMenschen meinen, für mich entscheiden zu dürfen, wie ich mich bezeichne.
Ich bin Autist, denn die Basis meines neurologischen Settings ist autistisch. Auf dieser Basis entwickle ich aktiv meine Persönlichkeit. Ich nutze meine autistischen Fähigkeiten, um Tag für Tag daran zu arbeiten, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.

 

 

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